Louis' zweiter Tag

141 12 0
                                    

Am zweiten Tag wurde mir bewusst, dass ich nicht nur dich vermisste.

Die Straßen waren erfüllt von dem Geschrei der Kinder, die wie kleine Bienen aus der Schule hinaus schwärmten und sich langsam verteilten. Manche wurden von ihren Eltern empfangen, andere mussten nach Hause laufen.
Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, stand ich auf der anderen Straßenseite und sah dabei zu, wie sich der Schulhof langsam leerte, das Kindergeschrei verebbte und es langsam leiser wurde.
Nun, da die meisten anderen Grundschüler schon verschwunden waren, fiel das kleine, blonde Mädchen noch mehr auf, das wartend vor dem Schultor stand und ihre grünen Augen unsicher über die nahezu leeren Straßen gleiten ließ.
Natürlich konnte ich die besondere Färbung ihrer Augen aus der Entfernung nicht erkennen, jedoch erinnerte ich mich an sie wie als wäre es erst gestern gewesen, dass sie mich zum letzten Mal freundlich damit angefunkelt hatte. Sie waren in genau der gleichen, wundervollen Farbe wie die ihrer Schwester. Doch über diese wollte ich momentan nicht nachdenken, da jede Sekunde wie ein Messerstich schmerzte.
Das kleine Mädchen wartete darauf, dass es von ihren Eltern abgeholt werden würde. Doch sie war nun schon sicherer als zu Anfang, denn sie hatte mittlerweile begriffen, dass man sie nicht vergessen würde. Früher, vor ihrer Einschulung, war dies immer ihre große Angst gewesen. Vergessen zu werden.
Ich hatte die kleine Prinzessin niemals vergessen. Jeden einzelnen Tag stand ich hier, wartete darauf, dass ihr Unterricht endete und, dass sie von ihren Eltern oder ihrer Schwester abgeholt werden würde. Zur Sicherheit. Um ihr die Angst zu nehmen, vergessen zu werden.
Ich kannte sie schon seit einer langen Zeit. Mittlerweile besuchte sie sogar die zweite Klasse, doch ich konnte mich noch genau an die Tage erinnern, als sie noch nicht einmal in der Schule gewesen war.
Wir hatten viel zu dritt unternommen, Valerie, Leah und ich. Ich vermisste diese Zeiten und auch die kleine Prinzessin fast genauso sehr wie ihre große Schwester.
Schließlich sah ich den allzu bekannten, silbernen Wagen ihrer Mutter um die Ecke biegen und war beruhigt. Auch heute hatte man an sie gedacht und holte sie pünktlich ab.
Das Auto hielt unmittelbar vor ihr und das kleine, blonde Mädchen hüpfte glücklich um es herum, um die Tür zu öffnen und einzusteigen.
Sehnsüchtig blickte ich zu ihr und hoffte dabei fast, dass sie sich umdrehen, die gegenüberliegende Straßenseite mit ihrem Blick absuchen und den jungen, braunhaarigen Mann erkennen würde, der dort mit hängenden Schultern stand und ihr nachsah. Vielleicht hätte sie ihr wunderschönes Lächeln aufgesetzt und mir zugewinkt, bevor sie eingestiegen wäre.
Diese Hoffnung weilte nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann war der Moment vertan und sie war hineingeklettert, ohne sich umgedreht zu haben.
Der Motor heulte auf, das Fahrzeug fuhr an und war schon bald aus meiner Sicht verschwunden.
Wie jeden Tag drehte ich mich langsam auf dem Absatz um und machte mich auf den Weg nach Hause.
Dieses Mal lenkte ich meine Schritte jedoch in eine andere Richtung, denn mir war mit einem Mal ein Gedanke gekommen. Es war mir klar geworden, als ich Leah gesehen hatte.
Das Wetter war, genau wie gestern, ein klarer Himmel, jedoch war es eisig kalt.
Mein Ziel war ein schmächtiger, alter Mann, der bibbernd an einer Straßenecke stand, auf seinem Kopf ein lächerlich großer, schwarzer Zylinder und in einen ebenso schwarzen, alten Frack gekleidet, der für diese Jahreszeit viel zu kalt erschien.
Er war einer der Menschen, die man jeden Tag an dieser Stelle antreffen konnte, jemand, der sein Geld durch das Vorführen von Zauberticks verdiente.
Ohne mich weiter um eine Begrüßung zu scheren, trat ich auf ihn zu.
„Die Blume, die sie aus ihrem Mantel zaubern konnten", meinte ich mit rauer Stimme und der Dürre erschrak bei meinem Anblick.
„Was ist damit?", fragte er ängstlich und schielte zu mir hoch. Ich war wahrlich nicht sehr groß, jedoch überragte ich den Alten immer noch um einen Kopf.
„Können Sie das noch?"
Er nickte, erleichtert und eifrig zugleich, machte einen Schritt nach hinten und verbeugte sich einmal. Dann öffnete er seinen Mantel und ließ mich seine leere Tasche sehen, bevor er sich einmal wackelig im Kreis drehte, mehrmals gegen diese klopfte und aus dieser eine orangefarbene Tulpe hervorzog, eine, die exakt dieselbe Farbe wie jene von damals hatte.
Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und entnahm sie seiner zittrigen. Ich drehte sie achtsam hin und her und dachte an die vergangenen Tage. Ich erinnerte mich.

„Genug gesehen, kleine Prinzessin?", fragte der Mann mit den braunen, unordentlichen Haaren und schielte zu dem jungen, blonden Mädchen hinauf, das auf seinen Schultern thronte und begeistert dem alten Mann im schwarzen Frack dabei zusah, wie er eine Tulpe aus seiner Manteltasche hervorzog, die vor kurzer Zeit noch leer gewesen war.
„Nein!", lachte diese und reckte ihren Kopf noch weiter in die Höhe, obwohl sie dank des Mannes schon über die Köpfe aller anderen Anwesenden blicken konnte.
„Leah, wir wollten doch noch weitergehen!", schmunzelte die junge Frau mit den braunschwarzen Haaren, die sich eine Augenfarbe mit der Kleineren teilte und neben dem Blauäugigen stand.
Das Mädchen auf dessen Schultern lachte übermütig.
„Ich will ein Kuscheltier haben!", quengelte sie dann und befahl dem Freund ihrer Schwester durch mehrfaches Klopfen auf die verwuschelten Haare, dass sie heruntergelassen werden wollte.
Auf dem Boden angekommen, griff sie jeweils eine Hand der beiden Älteren und zerrte sie in Richtung eines Spielwarengeschäftes. Natürlich waren beide der Kleinen von Größe und Kraft her weit überlegen, trotzdem ließen sie sich mitziehen und quittierten die Situation lediglich mit fröhlichem Gelächter.
„Ich will diesen Teddy haben!", bettelte die Blonde und drückte ihr Gesicht gegen das große Schaufenster, sodass ihre Nase plattgedrückt wurde und sie mit weit aufgerissenen Augen auf den riesigen, schokoladenbraunen Stoffbären starren konnte, der ihr von der anderen Seite des Glases aus zulächelte.
„Du hast schon so viele zu Hause, Engelchen", meinte ihre Schwester und fuhr der Kleinen über die goldenen Haare, die wahrlich die eines Engels hätten sein können.
„Aber nicht den!", jammerte Leah weiter.
Unnachgiebig schüttelte die Braun-schwarzhaarige mit dem Kopf.
„Tut mir leid, kleine Maus, aber nein. Du darfst dir etwas anderes aussuchen!"
Die Unterlippe des zu diesem Zeitpunkt gerade einmal fünfjährigen Mädchens begann leicht zu beben, als sie gegen die aufkommenden Tränen ankämpfte.
„Ich will aber den da haben!", maulte sie in quengelndem Tonfall und wies mit ausgestreckte Hand auf das riesige Plüschtier.
Der junge Mann sah überlegend von seiner Freundin zu deren Schwester. Er wusste, dass er der Kleineren diesen Wunsch nun nicht erfüllen konnte, denn dies erschien ihm unfair Valerie gegenüber, die sich so stur dagegen sträubte. Daher beugte er sich zu der kleinen Schwester seiner Freundin hinunter, sodass er ein wenig kleiner als sie war und hob ihr traurig gesenktes Kinn ein wenig an.
„Weißt du was, kleine Prinzessin?", meinte er zuversichtlich, „Bald hast du Geburtstag. Und dann schenke ich dir diesen Teddy, ja? Es dauert gar nicht mehr lange bis dahin!"
Sie sah ihn mit kugelrunden Augen an.
„Aber das sind noch ganze fünfzehn Tage!", beschwerte sie sich nach einigem Überlegen, insgeheim ein wenig stolz darauf, dass sie so schnell auf die richtige Zahl gekommen war.
„Du wirst sehen, sie vergehen wie im Flug", munterte er sie auf, „und schon bald wirst du deinen Teddy haben, okay?"
Kurz überlegte das junge Mädchen noch, bevor sie feierlich nickte.
„Okay, aber nur, wenn du es auch ganz fest versprichst!"
Der Ältere lächelte sie an. „Riesengroßes Indianerehrenwort, junger Häuptling."
Und damit richtete er sich wieder auf, legte einen Arm um seine Freundin und griff mit der anderen Hand nach der kleineren des nun glücklichen blonden Mädchens.

7 Tage Blumenwetter || l.t. ✓Where stories live. Discover now