Louis' letzter Tag

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Am letzten Tag wurde mir endlich klar, wie sehr ich dich noch immer liebte.

Mit besorgt verzogenem Gesicht sah ich auf die strahlend gelbe Sonnenblume in meiner Hand, die gerade in voller Blüte stand.
Seufzend legte ich sie erneut weg und wandte mich wieder dem Fotoalbum zu, das sich neben mir auf dem Tisch befand. Langsam blätterte ich es durch. Erinnerungen, überall, wohin ich sah.
Und obwohl die Auswahl riesig schien, wurde ich nicht zufrieden gestellt. Ich fand einfach nicht das richtige Bild! Es war wohl eher so, dass alle Fotos, die ich ihr bisher geschenkt hatte, etwas mit einer Situation zu tun gehabt hatten, in der ich mich befunden hatte. Aber heute schien einfach nichts passiert zu sein! Ich saß einfach nur in meinem Haus und konnte es nicht lassen Trübsal zu blasen. Ich war ganz einfach mies drauf und wollte die Umwelt nicht mit meiner schlechten Stimmung verpesten. Überhaupt, was kümmerte mich dies alles hier überhaupt? Was kümmerten mich die anderen?

Doch das war genau jene Einstellung, die alles zunichte gemacht hatte. Sie war es gewesen, die uns zerstört hatte. Diese Gleichgültigkeit.

Und mit schmerzverzerrtem Gesicht dachte ich an diesen einen Tag. Ich erinnerte mich.

Mein Herz zog sich bei dem Anblick des verzweifelten, vom Weinen geröteten Gesichtes meiner geliebten Valerie schmerzhaft zusammen. Sie saß an eben jenem Tisch, an dem ich viel später sitzen und mir das alte Fotoalbum ansehen würde. Ihre Haare waren zerzaust, da sie sich zum wiederholten Male mit den Händen hindurchgefahren war. Ihr Körper bebte von den leisen doch bitterlichen Heulkrämpfen, die sie nun schon seit einer ganzen Weile plagten. Auf der anderen Seite saß ein junger Mann, der betrübt mit seinen Händen an der dunkelblauen Tischdecke herumspielte, den Blick immer wieder einmal nach oben gerichtet, um seine Freundin beim Weinen zu beobachten. Ich schämte mich für ihn. Ich schämte mich für den Mann, der zu meinem größten Ärger mein eigenes Ich war.
„Wie stellst du dir das vor, Louis?", schluchzte das Mädchen. Ihre Stimme zitterte, während ihr weitere Tränen über die Wangen liefen, auf ihr Shirt fielen und dort einen nassen Fleck hinterließen. Verzweifelt ging ich zu ihr, streckte meine Hand aus und wollte ihr damit die Tränen aus dem Gesicht wischen, doch ich griff einfach durch sie hindurch. Ich war nicht mehr hier, nur noch der Geist meiner Erinnerung. Eine verlorene Seele.
Zu dem Verdruss aller anderen im Raum erwiderte der Angesprochene nichts auf diese Frage. Warum hatte ich nichts getan?!
„Ich kann so nicht mehr weitermachen, Louis!", klagte sie nun. „Ich halte es einfach nicht mehr aus. Es scheint dir ja einfach egal zu sein, was alle über mich sagen. Meine Gefühle scheinen dir egal zu sein. Meine Liebe scheint dir egal zu sein. Ich scheine dir egal zu sein!"
Der Braunhaarige sah auf, richtete seine traurigen, blauen Augen auf sie und sagte doch nichts. Du dummer Junge, warum hast du es ihr nicht erklärt? Warum hast du ihr nicht gesagt, dass du sie liebst? Warum?
„Und selbst das hier scheint dir egal zu sein", murmelte Valerie bitter.
„Nein", flüsterte ich, wohl wissend, dass sie mich nicht hören konnte, doch trotzdem in der Hoffnung, dass sie es tat. „Nein, nein, nein, Valerie, nicht. Ich liebe dich, Valerie. Geh nicht. Tu mir das nicht an!"
Sie hörte mich nicht.
„Sag es ihr!", forderte ich mein vergangenes Selbst auf, doch auch dieses ignorierte meinen Befehl und starrte einfach nur ins Leere, innerlich zerbrechend, doch äußerlich gleichgültig wirkend.
„Leb' wohl, Louis", flüsterte sie mit erstickter, heiserer Stimme. „Es war wundervoll mit dir, aber du bist nicht mehr der Mann, in den ich mich verliebt habe."
Sie schluckte schwer. „Wahrscheinlich bist du weitergegangen."
Zum Ende hin hob sich ihre Stimme, sodass sie fast quietschig klang.
„Und das ist okay", piepste sie, „aber diesen Weg werden wir getrennt gehen müssen."
Sie stand von ihrem Stuhl auf, sprang fast, drehte sich ruckartig um und flüchtete aus der Wohnung. Louis sah ihr nach, er konnte es nicht fassen.
„Bitte bleib'", flüsterte er dann, lange, nachdem seine Haustür schon ins Schloss gefallen war und ohne, dass irgendjemand anderes als ich ihn hören konnte.
Irgendwann erhob er sich, stand auf und kam direkt auf mich zu. In der Erwartung, mit ihm zusammenzuprallen, schloss ich die Augen. Doch es geschah nichts. Er ging ganz einfach durch mich hindurch und ich blieb einsam und allein im Raum zurück.

„Nein, Valerie! Mein Engel, mein Ein und Alles! Komm zurück", wisperte ich schluchzend, während meine Hände die wunderschöne Sonnenblume bearbeiteten und ihre Blätter ausrissen.
Und plötzlich konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich sprang auf, rannte los und blieb kein einziges Mal stehen, bis ich ihr Haus erreicht hatte, die Treppen empor gerannt und keuchend an der Tür angekommen war.
Einen Moment lang schnappte ich nach Luft. Dieser Sprint hatte mich aus der Puste gebracht, doch bereute ich ihn kein bisschen.
In meiner Hand hielt ich noch immer die Blütenblätter. Langsam, mit einer abrupten Bewegung, kniete ich mich auf den Boden, vor ihre Fußmatte und begann, die gelben Blätter dort zu verteilen.
Eines nach dem anderen legte ich sie dort hin, ohne zu eilen, bis ich dadurch die Form eines großen, gelben Herzes erschaffen hatte.
Anschließend noch das beschriftete Polaroid in dessen Mitte.
Doch nun fühlte ich mich unwohl. Wer sagte mir nicht, dass es genauso werden würde wie schon einmal zuvor? Was, wenn ich einfach keinen Ton über die Lippen bringen würde?
Zitternd streckte ich meine Hand aus, strich einmal über den Knopf, mit dem ich die Klingel betätigen würde und neben dem, in ihrer ordentlichen Handschrift, ihr Name geschrieben stand.
Ich kniff die Augen für einen Moment zusammen, atmete tief durch und verstärkte schließlich den Druck meiner Hand, womit ich die Klingel hinunterdrückte. Es würde nicht so wie beim letzten Mal enden.
Der gleichgültige Louis von früher war einfach durch mich hindurchgelaufen. Jetzt wusste ich die Erklärung.
Er und ich waren nicht mehr dieselbe Person, denn ich hatte mich in den letzten sechs Tagen verändert.

"Stay" I whispered as you shut the door behind you.
~ milk and honey

7 Tage Blumenwetter || l.t. ✓Where stories live. Discover now