Kapitel 5

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Die Tage hier vergehen unwahrscheinlich zäh aber erst die Nächte sind richtig hart.
Ich liege auf der harten Matratze, starre an die Decke und zähle die Deckenfugen. In der Nacht überkommt mich das Heimweh.  Heimweh an mein zu Hause, so wie es früher einmal war. Ein Ort voller Wärme und Zuversicht. Ein Ort, an dem es nach frisch gekochten Essen roch, jedes Mal, als ich von der Schule gekommen bin, wo ich mit meiner Mom zusammen in der Küche stand und ihre berühmten Anisplätzchen gebacken habe. So oft saßen wir abends einfach stundenlang auf der Couch im Wohnzimmer und gaben erzählt und gelacht. Das und unzählige andere Dinge fehlen mir so schrecklich.

Langsam bekomme ich immer mehr das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. Ich gehöre nicht in diese scheußliche Klinik aber ich habe daheim auch keinen Platz mehr.
 An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Also stehe ich auf, hänge mir die Decke über die Schultern und gehe zum Fenster, während das Ende der Bettdecke hinter mir auf dem Boden schleift. Es ist eine sternenklare Nacht. Vor mir ruht der dichte Wald absolut friedlich. Die dichten Tannen werden vom Mondlicht in ein tiefes Dunkelblau gehüllt. Der Anblick ist gespenstisch und märchenhaft zugleich. Irgendwie passend zu diesem Ort mit seiner ungewöhnlichen Geschichte.

Mich würde die Stadt mit ihren Kratern, breiten Rissen und Absenkungen ja wirklich interessieren, allerdings glaube ich weniger, dass ein Ausflug genehmigt wird. Wer von den Doktoren und Professoren möchte denn mit einem Haufen Verrückter in die Stadt fahren? Mehr sind wir für sie meines Erachtens nach auch nicht, Verrückte und Gestörte. Dabei haben mich die Ausführungen von Miguel und Doktor Pen wirklich neugierig gemacht.
 Weil ich nun endgültig nicht mehr zur Ruhe finde, ziehe ich mich an und gehe zum ersten Mal seit meiner Ankunft hier in den Computerraum. Handys und Smartphones sind in der Klinik streng verboten. Aber es gibt feste Telefonzeiten und Computer mit Internetzugang.
 Der Raum ist dunkel und absolut still. Außer mir scheint noch niemand wach zu sein.
Ohne das Licht einzuschalten setze ich mich an einen der vier Schreibtische und fahre den PC hoch. Die Helligkeit des aufleuchtenden Bildschirms und des hereinfallenden Flurlicht sind völlig ausreichend.
Zuerst gebe ich das Schlagwort ‘Höllenfeuer’ in die Bildersuche ein und erhalte zahlreiche Aufnahmen aufgerissener Straßen und dampfendem Asphalt. Schon alleine diese Fotos wecken in mir den Drang, mehr darüber zu recherchieren.

Ich lese, dass der Grund für dieses mystisch anmutende Szenario ein Unglück war, das sich 1962 ereignete. Am 27. Mai desselben Jahres liefen in Centralia die Vorbereitungen zum Memorial Day auf Hochtouren. Die Feuerwehr sollte anlässlich des Feiertages in der Stadt aufräumen und dazu gehörte auch die neben dem Veteranen-Friedhof gelegene Mülldeponie. Man vermutet, dass einige Mitarbeiter einen Brand legten, um die Abfälle auf der Deponie zu beseitigen, doch die spätere Glut entzog sich jedweder Kontrolle.
Was 1962 mit ein paar wenigen Eimern Sand hätte gelöscht werden können, entwickelte sich stillschweigend zu einem unbeherrschbaren Feuer tief unter der Stadt. Eines, von dem die Bewohner nichts weiter mitbekommen sollten.
Erst als ein zwölf Jahre alter Junge beim Spielen im Garten beinahe in einem riesigen Erdloch versank, wurde den Menschen in der Stadt schmerzlich bewusst: Dieser Vorfall sowie einige Fälle von ohnmächtigen Personen, hingen womöglich zusammen. Die genaue Ursache versetzte den Menschen in Centralia jedoch einen Schock. Ein Feuer wie vom Teufel selbst gelegt, breitete sich 60 Meter unter der Stadt aus und drohte diese schlichtweg zu verschlingen.

Alleine die Vorstellung bereitet mir eine Gänsehaut.

 “Miss Brown?”

Schreckhaft zucke ich zusammen.

 “Sie sind aber schon früh auf den Beinen”, sagt Paul, der Betreuer, mit argwöhnischen Blick.

 “Ja, ich konnte nicht mehr schlafen und habe etwas im Internet gelesen.”

Einen Moment steht er da und schaut prüfend auf meinen Monitor.

 “In einer halben Stunde können Sie zum Frühstück kommen", murmelt er dann, bevor er weitergeht.

Auch ich sollte besser Schluss machen.
 Kurzerhand fahre ich den Computer herunter und gehe zurück auf mein Zimmer.

The Moonmate  Where stories live. Discover now