Rumpelstilzchen

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"Die Schuld liegt ganz und gar bei dir, Tochter einer Müllerin!"

Wie ein Pfeil traf Rumpelstilzchens Antwort das Herz der Fee. Tränen liefen über ihre weißen Wangen. Ihr Herz drohte vor Gram zu zerspringen und schmerzte unerträglich. Niedergeschlagen wandte sie sich um, doch dann gewann die Hartnäckigkeit die Oberhand und sie trat entschlossen auf das alte Männchen zu. Sein gefährlicher Rauch glitt an ihr wie an einer unsichtbaren Wand entlang, berührte sie jedoch nicht. Rumpelstilzchen nahm es wütend zur Kenntnis. Er biss die Zähne zusammen und starrte sie aus zusammen gekniffenen Augen bitterböse an. Erleichtert lächelte sie. "Rumpelstilzchen, höre mir zu! Ich allein bin nicht der Grund, weshalb ich dich mitten in der Nacht aufsuche: Es geht um die Existenz unserer Welt! Meine Kräfte werden schwächer und sind schon fast aufgebraucht. Bald muss ich eine Nachfolgerin ernennen. Die Kraft meiner schwarzen Schwester hingegen wird stärker! Schon bald wird sie über unsere gesamte Welt herrschen und niemand wird ihre Macht bezwingen können! Ich weiß, dass sie meine Kraft auch noch an sich reißen will, aber das soll ihr nicht gelingen! Deshalb brauche ich deine Hilfe! Du bist der Einzige, der in die Zukunft sehen und mir sagen kann, was ich tun soll! Wem muss ich meine Kräfte übertragen?" Das Männchen vor ihr, rang mit sich. Wie konnte sie sich nach dem, was sie ihm angetan hatte, erdreisten, ihn um einen Gefallen zu bitten? Wusste sie nicht, zu was er fähig war? Aber ja, das wusste sie. Sie, die eine, die ihn jemals vollständig gekannt hatte. Bilder eines kleinen blonden Mädchens schlichen sich in seine Gedanken, das wie der Wind über eine Wiese und in den Wald lief. Schnell verdrängte er die Erinnerung und konzentrierte sich auf die Fee, die vor ihm stand und ihn tatsächlich um einen Gefallen bat. Er schloss die Augen. Drei Kinder tauchten vor seinem geistigen Auge auf: Zwei Mädchen und ein Junge. Der Junge besaß kohlrabenschwarzes Haar und funkelnde blaue Augen, gleich einem Diamanten. Friedlich schlummernd lag er in warme Decken eingewickelt in einer Wiege. Im großen Speisesaal stand ein Korb mit saftigen Äpfeln. Der Junge verblasste und Rumpelstilzchens Vision sprang zu den zwei Mädchen, die ebenfalls unschuldig in ihren Bettchen schliefen. Eines der Mädchen besaß weißblonde Löckchen, das andere wellige haselnussbraune Haare, die mit goldenen Strähnen durchzogen waren. Auf die Bettdecke des blonden Kindes war ein Spinnrad aufgestickt. Neben dem braunhaarigen Kind stand eine blühende Rose in einer gläsernen Vitrine.
Wie von Zauberhand bewegte sich ein roter Apfel und gab den Blick auf die anderen Äpfel im Korb frei, die allesamt sonnengelb leuchteten. Das Spinnrad auf der Bettdecke begann sich zu drehen. Die Rose in der Glasvitrine bewegte sich, ein Blütenblatt segelte hinab.
Rumpelstilzchens Geist kehrte zurück, er öffnete die Augen. Erwartungsvoll suchte die weiße Fee seinen Blick. Er sprach:

"Es waren drei Königskinder,
die gehen und kommen geschwind,
ein Blütenblatt schwebt durch die
Luft,
die Rose umsäuselt der Wind.

Es waren drei Königskinder,
die gehen und kommen geschwind,
wieder dreht das Spinnrad sich,
welches Ende es dies' Mal spinnt?

Es waren drei Königskinder,
die gehen und kommen geschwind,
viele Äpfel leuchten gelb,
wer wohl den einzig' roten nimmt?"

Rumpelstilzchen wusste, um wen es sich handelte: Die Zukunft dieser Welt hing mit den Thronerben von Dornröschen, Schneewittchen und der Königin Belle zusammen, die in längst vergangener Zeit ein mit einem Fluch belegtes Biest durch die wahre Liebe zurück in einen Prinzen verwandelt hatte. Aber das würde er der weißen Fee nicht verraten! Sie musste schon selbst heraus finden, wer mit diesem Reim gemeint war!
"Deine Voraussehung hat mit den Kindern von Dornröschen, Schneewittchen und Belle zu tun oder nicht?" , fragte die weiße Fee im gleichen Moment. "Die Rose steht für Belle, das Spinnrad für Dornröschen und der rote Apfel für Schneewittchen!" Seine Brauen zogen sich vor Ärger und Verwunderung in die Höhe. Er nickte.
"Einem von ihnen muss ich meine Kraft übertragen. Kannst du mir sagen, welches der drei Kinder es sein soll?"
Er schüttelte den Kopf. "Das musst du selbst entscheiden!" erwiderte er mit knarzender Stimme. "Ich danke dir für das, was du getan hast!" verabschiedete sie sich traurig lächelnd und wandte ihm den Rücken zu. Ihre weiß schimmernden Flügel schlugen leicht gegeneinander und hinterließen fein glitzernden Staub in der Luft, während sie sich in die Luft erhob.
Tränen sammelten sich in den Augen der Fee. Ein letztes Mal sah sie zu ihm hinunter, auf das alte kleine Männlein, an dem ihr Herz noch immer so sehr hing, dass es jetzt schier zu zerreißen drohte. So schnell sie ihre Flügel hinweg tragen konnten, entfernte sich die weiße Fee von der Lichtung. In einiger Entfernung gehorchten ihr ihre Flügel nicht mehr und sie trudelte viel zu schnell und unfähig, die Landung zu steuern, zu Boden. Als sie darauf aufkam, schoss ihr ein stechender Schmerz in den linken Flügel und sie stöhnte auf. Doch noch mehr als der Verletzte Flügel, schmerzte ihr Herz. Wieso hatte bei ihrer Verwandlung damals nicht auch ihr Herz in eine porzellanerne Hülle gebettet werden können, wie auch ihre Haut mit einer solchen überzogen worden war? Wie viel einfacher wäre es, nichts mehr fühlen zu können, wie viel einfacher wäre ein Leben ohne Herz! Ihre Augen liefen über. Verschwommen nahm sie einige Rehe wahr, die sich ihr ohne Furcht näherten. Mehrere Kitze liefen an ihrer Seite und beäugten die beflügelte Frau aus ihren klugen schwarzen Augen interessiert. Ein kleiner Fuchswelpe sprang aus dem Gebüsch und schmiegte sich sanft an sie. Voller Vertrauen leckte seine rauhe Zunge quer über ihr tränennasses Gesicht, das dem Boden zugeneigt war. Schluchzend und lächelnd strich sie ihm über das feuerrote Fell. Der Kleine fiepte und blickte sie aus seinen glänzenden schwarzen Augen an. Die weiße Fee wusste, dass der junge Waldbewohner sie zu trösten versuchte, aber nichts und niemand konnte momentan ihrer Verzweiflung Einhalt gebieten. Die Tränen versiegten nicht und der Kloß in ihrem Hals verringerte sich nicht. Wie sollte sie es nur schaffen in der kurzen Zeit einem der Königskinder ihre Kräfte zu übertragen? Sie waren doch noch viel zu klein, um diese Macht, tragen zu können! Und sie wusste auch nicht, wer dazu bestimmt war!
Aber trotz diesen Widersprüchen verminderte sich ihre Kraft stetig, ihr blieb keine Zeit, um zu zweifeln! Mit aller Sicherheit würde sie die schwarze Fee bald aufsuchen und dazu zwingen, ihr ihre Kraft zu übertragen! Weigerte sie sich, löschte sie die Existenz der weißen Feen: Denn dann würde sie die schwarze Fee unweigerlich töten!
Stimmte sie zu und übertrug ihr ihre Macht, würde die schwarze Fee die mächtigste Fee aller Zeiten werden und diese Welt in Chaos und Verderben stürzen. Beide Möglichkeiten gaben ihrer Welt den Todesstoß, egal wie sie sich entschied.

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LG eure Colourgelb 😉

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