🔱Zweiunddreissig🔱

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Jungkook

Leise ist die Musik, die ich angemacht habe, im Raum hörbar, nebst dem leisen Streichen des Pinsels, den ich gerade führe und Yoongis und meinen regelmässigen Atemzügen. Mit schief gelegtem Kopf mustere ich die Leinwand, die vor mir auf der Staffelei steht und bereits ziemlich bemalt wurde.

Es ist für mein Studium, wir müssen ein Bild malen und ich bin gerade dabei, meines fertigzustellen. Wie ich genau darauf gekommen bin, das Gesicht einer jungen Frau zu zeichnen, die so unendlich traurig aussieht, weiss ich immer noch nicht so genau. Aber so ist das häufig. Plötzlich habe ich ein Bild im Kopf, dass ich gerne auf Papier - oder in dem Fall auf die Leinwand - bringen will. Vermutlich das sowas wie wenn ein Autor eine Idee für ein nächstes Buch hat. Das Bild ist hauptsächlich in grau und schwarz gemalt, doch trotzdem mangelt es nicht an bunten Farben, mit denen ich genauso meine Pinselstriche gezogen habe. 

"Ist viel besseres Licht, nicht wahr?", meldet sich da Yoongis Stimme links von mir zu Wort. Ich drehe den Kopf zu meinem besten Freund um und schenke ihm ein breites Lächeln. "Ja", stimme ich ihm hörbar erleichtert zu und nicke dabei, "Danke, dass du mir beim Schleppen geholfen hast!"

Ein müdes Grinsen ziert seine schmalen Lippen und er legt seinen Kopf wieder auf der Lehne des Sofas ab, dass wir gemeinsam ebenfalls hier hoch in das ehemalige Arbeitszimmer meines Vaters geschleppt haben. Es war wohl das schwerste, was wir hochtragen mussten, dementsprechend hat Yoongi es sich auch gleich zu Eigen gemacht, sobald es an der Wand stand. Er ist seit er sich darauf gelümmelt hat, noch kein einziges Mal aufgestanden, hat vermutlich vor sich hin gedöst. 

"Kein Ding", murmelt er auf meine Worte hin und zucke träge mit den Schultern. Lächelnd wende ich mich wieder meinem Bild zu. Ich bin froh, endlich einen anderen Raum zum Zeichnen zu haben. Der Keller ist schön und gut, aber er ist schlecht für einen Künstler. Das Zwielicht verändert die Farben, sodass das Bild bei normalem Tageslicht nicht mehr gleich aussieht, wie mit dem Licht im Keller durch die Lampen. Es ist nie Licht dahin gekommen, aber leider hatte ich keine andere Möglichkeit. 

Doch mein Vater hat endlich meinem langen Flehen nachgegeben und eingewilligt, sein Arbeitszimmer mit dem Keller zu tauschen. Sein Arbeitszimmer ist der wohl beste Raum im Haus fürs Zeichnen, immerhin ist das Zimmer gen Norden ausgerichtet, was den ganzen Tag lang dasselbe Licht bedeutet und ausserdem hat er eine verglaste Fensterfront, was den Raum mit diesem Licht praktisch flutet. Sobald mein Vater sein Einverständnis gegeben hat, habe ich Yoongi angerufen und ihn gefragt, ob er mir helfen kann und gemeinsam haben wir die ganzen Sachen, die ich fürs Zeichnen und Male brauche, hoch in den zweiten Stock des Hauses geschleppt und noch dazu das Sofa, auf dem er nun liegt.

"Du hast da etwas Farbe auf der Wange", erklingt wieder die tiefe Stimme des Älteren und ich sehe kurz zu ihm, bevor ich mir reflexartig mit den Fingerspitzen an die Wange fasse. "Echt?", hake ich nach und schürze die Lippen. Er nickt und mustert mich durch halb geschlossene Augen. "Blau", informiert er mich und wieder verziehen sich seine Lippen zu einem Grinsen.

Ich seufze tief und male weiter. Ich werde die Farbe abwaschen, wenn ich fertig bin. Es ist mir ein Rätsel, wie Menschen sich nie selbst anmalen, wenn sie etwas malen. Ich schaffe es einfach nicht. Meine Hände sind voll mit Farbe und nicht selten sind es auch die Klamotten, die ich nur noch fürs Zeichnen anziehe, weil sie bereits unzählige Farbspritzer besitzen.

"Du hast mir noch gar nicht von deinem Ausflug gestern Abend erzählt", meint der Schwarzhaarige auf einmal. Ich beginne wie von selbst zu lächeln und ziehe die nächsten Pinselstriche mit roter Farbe. "Es war toll", erwidere ich zufrieden. "War dein Crush also nett zu dir?", hakt er nach und ich ignoriere, dass er Taehyung 'meinen Crush' genannt hat, als ich ihm antworte: "Mehr, als ich erwartet habe. Er hat sogar gesagt, dass mein Graffiti gut aussieht!"

Yoongi brummt etwas. "Immerhin erkennt er Talent und ist ehrlich. Das ist mehr als ich von ihm erwartet habe, bei dem, was du mir über ihn erzählt hast", murmelt er hörbar abschätzig. Ich seufze tief und lasse den Pinsel in meiner Hand sinken, als ich ihn wieder ansehe. "Er ist kein schlechter Mensch, Hyung", meine ich leise und beisse mir auf die Lippe, als er ironisch nickt. "Natürlich nicht."

"Nein, ich mein's ernst! Er ist... eigen... aber nicht schlecht."

"Er ist blind vor lauter Vorurteilen", kontert der Schwarzhaarige ruhig und einen Moment lang, weiss ich nicht, was ich darauf erwidern soll, denn damit hat er doch ein Stück weit Recht. Taehyung weiss nur, dass ich aus einer Wohlhabenden Familie komme und er bildet sich ein, dadurch das Recht zu haben, mich mit allen anderen Reichen in eine Schublade zu stecken, die durch ihr vieles Geld arrogant geworden sind. 

"Darauf habe ich ihn angesprochen", gebe ich dann leiser zu und zeichne weiter. Yoongi lacht rau auf und ich sehe aus den Augenwinkeln, dass er sich aufsetzt. "Wie hat er reagiert?", will er wissen, "War er nicht stinksauer?"

"Im Gegenteil", widerspreche ich, "Er schien eher... melancholisch? Ich weiss nicht, aber er hat gesagt, er hat seine Gründe, so zu denken, wie er denkt und dabei hat er nicht wütend gewirkt. Vielmehr verbittert."

Mein Hyung erwidert darauf nichts mehr und ich arbeite weiter, während die Musik noch immer leise aus der Stereoanlage erklingt. Während ich die Pinselstriche präzise ziehe und arbeite, versinke ich einmal mehr in meinen Gedanken.

Taehyung hat gesagt, er kennt die High Society, allerdings weiss ich nicht, was ich davon halten soll. Er hasst Leute wie mich, also wieso sollte er viel mit ihnen zutun haben, dass er sie anscheinend so gut kennt inzwischen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wieso sollte er so viel Zeit mit Menschen verbringen, die er derart verabscheut? Das ergibt keinen Sinn. Doch seine Worte haben auch nicht wie eine Lüge gewirkt. Ich glaube es ihm, wenn er sagt, er kennt sie und er hat sie aus bestimmten Gründen zu hassen gelernt, doch ich verstehe nicht, wie er dazu gekommen ist.

Ich verstehe vieles nicht, was diesen jungen Mann angeht. Er ist wie ein Buch mit sieben Siegeln - und ich bin zu neugierig, als dass ich diese einfach verschlossen lassen könnte.

Graffiti [Vkook]Where stories live. Discover now