Viele Jahrhunderte zuvor

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In Michaels Blut war ein Wandel im Gange. Es war erhitzt. Floss wie flüssige Lava durch seine Adern, als er das Schwert schwang und den Schlag ausübte. Die Schneide traf Luzifer. Sein Blut, dunkel wie flüssiger Teer. Tropfen für Tropfen quoll es hervor auf die weißen Flügel des aufständischen Engels und färbten sie schwarz. Beide waren bereit bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Bis einer von ihnen fallen würde. Es war Michaels Aufgabe, den Himmel rein zu halten. Alles und jeden zu vernichten, der versuchte Gott den Rang streitig zu machen.

Nichts Geringeres hatte Luzifer versucht. Er hatte den Aufstand geprobt, hatte andere Engel aufgehetzt Gott zu stürzen, damit er, der Lichtbringer, den Thron der Welt besteigen konnte. Der Zorn in Michael verstärkte sich, je länger der Kampf dauerte. Auch seine Gefährten beteiligten sich nun und kämpften gegen Luzifers Anhänger.

Er musste dies hier und jetzt beenden. Mit starker Hand schwang er sein Flammenschwert und drängte Luzifer gen Abgrund. Seine Mitstreiter taten es ihm gleich und so standen nun alle Engel, die sich erhoben hatten und Gott spielen wollten am Rand des Himmels.

Dämonen.

Ein Donnergrollen durchflutete das Refugium der Reinheit. Die ersten Engel fielen, gestürzt von ihren eigenen Schwestern und Brüdern, in den Abgrund, bis nur noch Luzifer übrig war. Und auch er fiel, gestürzt von Michael, in die Tiefen des Tartaros, wo er fortan herrschte; als Herr der Unterwelt.

Doch auch Michael fiel, da der Grund unter ihm zu schwanken begann. Sein geliebtes Schwert fiel ihm aus der Hand und dennoch erwartete er aufgefangen zu werden, doch dem war nicht so. Im Gegenteil, er wurde gefangen genommen und in Ketten gelegt.

Als er erwachte, lag modriger Geruch in der Luft. Die Höhle in der er blinzelnd zu sich kam, war ein einziger dunkler Ort, zu dem sich nichts und niemand verirrte. Nicht einmal Ungeziefer wollte sich hier wohnlich einrichten. Verzweifelt zerrte er an den Ketten, die ihn an den steinernen Wänden festhielten. Es schien, als wären sie mit dem Felsblock verschmolzen.

Hier also würde er sein Ende finden.

Tag um Tag fristete er dieses einsame Leben. Jahrhundert um Jahrhundert verging. Dennoch konnte er froh sein, dass sich niemand hier her verirrte. Denn so konnte ihn auch niemand zum Reden bringen. Sprechen bedeutete den Tod. Den Tod für jemanden, den er liebte. Dieses Wissen, hatte ihm eine körperlose Stimme Nacht für Nacht eingeflüstert und daran hielt er sich.

Michael blinzelte, versuchte wieder einmal etwas zu sehen, was er noch nicht in den vielen Jahrhunderten entdeckt hatte, in denen er dahinvegetierte. Stalaktiten hingen von der Decke. Einigen konnte er im Laufe der Zeit beim Wachsen zusehen. Das stete Tropfen von Wasser malträtierte sein Gehirn. So hatte er immer wieder mit Halluzinationen zu kämpfen.

Bling-Platsch-Bum-Ding. Sämtliche Töne hatte er bereits im Plätschern des Wassers erkannt. Etwas knirschte. Sein Blick, teilweise verschleiert durch sein langgewachsenes Haar, glitt durch die Dunkelheit, an den Wänden entlang. Vielleicht hatte er es sich auch nur eingebildet. Wieder hörte er ein Geräusch, doch jetzt etwas lauter und näher. Es waren Schritte, jemand kam auf ihn zu.

»Guten Tag mein geliebter Bruder.«

Worte, so kalt wie die Person, die sie ausgesprochen hatte. Er spie auf den Boden, als seine Schwester vor ihm stand. Auch sie hatte sich damals von Gott abgewandt und wahrscheinlich war sie immer noch die Lakaiin von Luzifer. Ihm fiel auf, dass sie sich kaum verändert hatte. Sie war das genaue Gegenteil von ihm. Ihre Haut war dunkel, ebenso ihr Haar und ihre Augen waren schwarz wie die Hölle.

»Ach ich vergaß, du darfst nicht reden, weil unsere Mutter sonst stirbt. Eigentlich dachte ich ja, du würdest meinen Worten nicht glauben. Aber anscheinend habe ich dich falsch eingeschätzt.«

Er fühlte sich wie ein wildes Tier, eingesperrt und hilflos seinem Wärter gegenüber. Selbst wenn er jetzt freikommen sollte, hätte er nicht annähernd genug Kraft, um seine Schwester zur Strecke zu bringen. Ein Knurren kämpfte sich aus seiner Kehle. Wütend zerrte er wild an den Ketten, die ihn daran hinderten ihr den Hals umzudrehen.

»Ich muss dir doch nicht erklären, dass diese Ketten dich erst freigeben, wenn Mutter stirbt und dadurch der Fluch gebrochen ist. Gerade in dein Hirn sollte sich dieses Wissen eingebrannt haben.«

Angewidert verzerrte er das Gesicht, als sie näher kam und ihre langen Finger über seine Brust gleiten ließ. Ihre Berührungen ähnelten Dornen, die sich tief in sein Fleisch fraßen.

»Wärst du doch nur nicht mein Bruder. Alles könnte so viel einfacher sein. Aber nein, ausgerechnet du musst das Lieblingskind unserer Mutter sein.«

Wehmütig hörte er sich jedes Wort an, das sie sagte. So vieles lag ihm auf der Zunge. Doch nichts davon würde seinen Mund verlassen.

»Michael!«, sagte sie plötzlich. »Ich habe dir jemanden mitgebracht, über den du dich sicherlich freuen wirst.«

Aus ihren Worten tropfte die Ironie, denn wie aus dem Nichts stand Tiamat vor ihm; seine Mutter. Wie hatte seine Schwester das gemacht?

Gerne hätte er seine geliebte Mutter umarmt. Ihr gesagt, wie Leid ihm, das alles tat. Doch seine Lippen waren verschlossen und mussten es bleiben. Aufmerksam betrachtete er sie. Sie war alt geworden. Ihr Haar grau, ihr Aussehen ärmlich. Nichts erinnerte an die Mutter aller Urengel. Selbst ihre einstmals glänzenden Flügel hingen nun herab. Ihre stolzen Schultern waren in dem weißen Kleid, dass einem Nachthemd glich nicht zu erkennen. Was hatten sie nur mit ihr angestellt?

»Willst du deine Mutter nicht begrüßen, mein Bruder? Deine Willenskraft ist erstaunlich. Ist dir bewusst, dass du, wenn du nicht sprichst, ihren Leidensweg verlängerst. Sie kann diese Welt nicht verlassen, außer du sprichst. Nur ein einziges Wort und sie ist erlöst.«

Tränen rollten seine Wange hinab. Sollte seine Gefangenschaft auf diese Weise beendet werden? Wie grausam konnte man sein? Ein einziger Stoß seiner Schwester und seine geliebte Mutter lag ihm zu Füßen, in dem Dreck dieser Höhle. Zitternd griff sie nach seinen Beinen, hielt sich an ihm fest. Tränen benetzten seine geschundene Haut.

»Bitte mein Kind. Sprich und befreie uns beide aus diesem Fluch.«

Nein. Wie sollte er mit dieser Schuld leben?

»Bitte Michael. Ich kann und will nicht mehr. Hab keine Angst. Wir sehen uns wieder. Irgendwann. In vielen Jahrtausenden, wenn du bereit bist.«

Er wollte es nicht tun, aber ihre Bitte ließ ihm keine andere Wahl. Seine Lippen erzitterten, als er den Mund öffnete und tief die abgestandene Luft einsog.

»Mutter.«

Ein einziges Wort. Es war ausgesprochen. Nichts konnte es zurücknehmen. Kaum hatte er es in diese Kloake von Luft gehaucht, erschauderte seine Mutter und gab einen erstickenden Laut von sich. Ihr Jahrtausende alter Körper zerfiel zu Staub. Ein animalischer Schrei ließ die unterirdische Höhle beben.

»Naxxy!«

Doch seine Schwester, samt ihrem höhnischen Lachen verschwanden im Ether der Zeit.

Er schwor sich, sie zu finden und zu töten.

Grace & Michael - Stunde des SchmetterlingsWhere stories live. Discover now