Kapitel Eins

6 0 0
                                    


Warm fegte der Wind über die Stadt, als Michael sich auf den Weg machte, um an seinem Lieblingsplatz, der Turmspitze der Basilika, die Menschen zu beobachten. Viele ungezählte Male schon saß er hier und richtete sein Augenmerk auf alles, was unter ihm lag.

Die Menschen. Die Guten. Die Bösen.

Es war seine Aufgabe, die unschuldigen Seelen vor Luzifer zu beschützen, denn Gott setzte sein Vertrauen in ihn. Doch er wusste, dass das Böse in jeder Gestalt Menschen jagte, vor allem nach den Willensschwachen. Es waren genau diese Schwachen, bei denen Luzifer und sein Gefolge leichtes Spiel hatten. Sie manipulierten diese, bis ihnen gefiel, was sie erschaffen hatten, und benutzen sie für ihre Zwecke.

Kopfschüttelnd hielt er sich an der Turmspitze fest und lief auf den Schieferplatten umher, um in alle Himmelsrichtungen blicken zu können.

Seit Tagen spürte er dieses Ziehen in seinem Herzen. Es war, als würde jemand nach ihm rufen. Als wollte jemand, dass er zu ihm kam. Dieses Gefühl der Dringlichkeit wurde von Stunde zu Stunde intensiver, brannte sich in jede Faser seines Körpers. Er wusste, was es bedeutete. Traute sich dennoch nicht, den Weg zu diesem Menschen anzutreten.

War es tatsächlich soweit? War der Zeitpunkt gekommen? Fragen über Fragen schwirrten durch seinen Kopf, als er die Schwingen eines anderen Engels hörte. Vor ihm kam Raphael schwebend zur Ruhe.

»Fürst?«

»Du sollst mich nicht so nennen«, stellte er klar. Michael ignorierte den anderen Engel und beobachtete stattdessen weiter die Welt. Er spürte die Unruhe, die sich zwischen den Menschen ausbreitete.

»Sie spüren es und wissen dennoch nicht, was es ist. Fürst, ich wurde geschickt. Offiziell.«

Ruhelos schlug er seine Flügel auf. Ihre Ausmaße waren enorm. Ihre Farbe von strahlendem Gold. Er wusste, dass es nichts brachte, ihm erneut zu sagen, dass er ihn nicht Fürst nennen sollte, also bat er ihn zu erzählen. »Sprich.«

Michael wartete auf die Antwort seines Gegenübers. Dieser jedoch starrte in den Himmel und brachte kein Wort hervor.

»Wirst du wohl sprechen.«

Demütig senkte Raphael seinen Kopf. »Mein Fürst, die Nacht ohne Morgen steht kurz bevor.«

Er schloss seine Augen, atmete tief die kühle Luft ein und verinnerlichte jedes gesprochene Wort. Also waren seine Gefühle und der innerliche Aufruhr genau das, was er vermutet hatte. Er schaute seinem Bruder tief in die Augen, die so grün waren wie Moos.

»Wie viele Kriegsengel stehen zur Verfügung?«, wollte er wissen.

»Keiner«, sprach Raphael zögerlich.

»Wie meinst du das, keiner? Soll ich es etwa alleine mit dem Herrn der Unterwelt aufnehmen?«

»Nein Fürst. Uriel, Gabriel und ich werden an deiner Seite kämpfen.«

Michael wandte sich ab, um nachzudenken.

»Du hast es schon einmal geschafft. Gemeinsam werden wir ihn verbannen, diesmal für immer«, sagte Raphael.

»Du weißt, wie es in den Schriften heißt.«

Die eine Seele rein wie der Herr selbst, wird das Böse in die Knie zwingen, wie es kein Schwert vermag.

»Du kannst erst in den Tartaros hinabsteigen, wenn du sie gefunden hast. Dann erst kannst du alle gestohlenen Seelen einfordern und letztendlich deiner Bestimmung folgen, Luzifer ein für alle Mal zu besiegen.«

Seine Zeit war gekommen. All die Jahrhunderte, die er in Gefangenschaft verbracht hatte und danach auf der Erde gewandelt war, kamen nun zu ihrem Ende. Mit Wehmut wurde im klar, wenn er vollbrachte, wovon alle anderen ausgingen, brauchten die Menschen nach seinem Kampf keine Engel mehr.

Grace & Michael - Stunde des SchmetterlingsDonde viven las historias. Descúbrelo ahora