Zu kalt zum Streiten

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Dicke, weiße Schneeflocken glitten so langsam hinab, dass man meinen könnte, die Zeit verlaufe in dieser Nacht langsamer. Kein einziger Laut durchbrach die Stille, kein Aufblinken von Autoscheinwerfern, keine eiligen Schritte eines nächtlichen Heimkehrers. Eisige Kälte wäre jedem in die Glieder gekrochen, der sich zur späten Stunde heraus wagte und normalerweise wäre Gabriel Reyes der Letzte, der freiwillig einen Fuß in die weiße Kälte setzte. Er hatte die Idee, das Hauptquartier Overwatchs ausgerechnet in die Schweiz zu verlegen, von Anfang an nicht gut geheißen. Seinem Geschmack nach war es hier einfach viel zu oft viel zu kalt. Heute war ohne Frage einer der Tage, die der Blackwatch-Commander normalerweise tunlichst im Inneren der Basis verbrachte, wo es schön warm war. Genau genommen wäre Gabriel dort auch jetzt lieber, doch nirgends war er Jack und Ana entkommen.


Er hatte natürlich genau gewusst, dass seinen beiden engsten Freunden und Vorgesetzten überhaupt nicht schmecken würde, was er tat, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, diesem Drecksack Dawson die Faust auf die Nase zu knallen. Die war natürlich gebrochen, denn Gabe hatte sich nicht zurückgehalten. Das Knacken war ein beinahe befriedigendes Geräusch gewesen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er dem Drecksack gerne noch ein paar Knochen mehr gebrochen. Verdient hatte der Kerl es allemal und der Latino hatte wenig Hemmungen, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn es die Situation erforderte. Manchmal tat es sogar richtig gut und das hier war einer dieser Fälle gewesen.


Gabe konnte Typen wie diesen Dawson nicht ausstehen. Typen, die meinten, sie könnten tun, was sie wollten und dabei die Allerschwächsten ausbeuten. In diesem Fall war es ein Menschenhändlerring gewesen, dessen Zentrale Blackwatch im Visier gehabt hatte. Ein schickes Bürogebäude, geschmockvolles Interieur. Nichts hatte an die Schrecken erinnert, die sie in einer der Lagerhallen Dawsons gesehen hatte. Ausgemergelte Kinder, halbtote Jungen und Mädchen mit leeren Augen und mit Blutergüssen übersähten Körpern. Ihm war es gleich, wenn erwachsene Leute sich selbst zugrunde richteten - Mierde, sollten sie doch! - indem sie Drogen nahmen, sich verkauften oder seinetwegen auch Waffen schoben. Nichts davon berührte ihn wirklich. Sich jedoch an Kindern zu vergreifen, den wirklich Wehrlosen, fand er schlicht abstoßend und zu sehen, in welchem Luxus der Mistkerl lebte, der hinter dem Handel mit ihnen steckte, hatte den Wunsch, eben diesem Mimal kräftig eine zu langen, nur noch verstärkt. Dass er das bei Blackwatch konnte, war das Beste an diesem Job.


Weder Jesse noch Genji hatten versucht, ihn davon abzuhalten, wenngleich er schwören könnte, dass zumindest der Japaner seine Einwände hatte. Wenn es um Regeln ging, war er doch ein wenig unflexibler als Gabriel selbst oder der Bengel McCree, den Gabe von der Dreadlock Gang geklaubt hatte. Der kleine Cowboy hatte zwar so seine Marotten - und dazu gehörte klar eine undeutliche Aussprache mit einem mehr als furchtbaren Akzent - doch er hatte sich längst als zuverlässig, absolut loyal und flexibel erwiesen. Letzteres war auch einer der Gründe, neben der erstaunlichen Zielsicherheit des Bengels, wieso Gabriel sich überhaupt dafür eingesetzt hatte, Jesse eine Chance bei Blackwatch zu geben, obwohl er als Feind mit der geheimen Unterorganisation Overwatchs in Berührung gekommen war.


Ob letztlich das Argument, Gabriel habe sowieso viele hochgradig illegale Kontakte, die ihm immer wieder mal aushalfen - von Hackern bis Dieben über Waffenschieber, Informanten und Auftragsmörder - oder doch die Erklärung, McCree sei noch ein Kind, dass sonst den Rest seines Lebens im Knast hocken müsste, Jack erweicht hatte, konnte Gabriel nicht mit letzter Bestimmtheit sagen, doch da auch Ana sich für den Jungen ausgesprochen hatte, war es im Grunde beschlossene Sache gewesen. McCree selbst zu überzeugen, war da härtere Arbeit gewesen.

Demasiado frío para discutirWhere stories live. Discover now