Das Geheimversteck

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Unruhig schwang der Lichtkegel der Taschenlampe hin und her. Sie war die einzige Lichtquelle und leuchtete uns den Weg zum Inneren der Höhle, die ich bereits seit frühen Kindertagen kannte. Vertraut waren das bräunliche, dunkle Gestein um uns herum. Ebenso wie der schmale Gang, durch den Jensen und ich uns quetschen mussten.
Der Schauspieler gab einen leisen, erschrockenen Schrei von sich, als er geradewegs in ein riesiges Spinnennetz lief und sich hektisch die Fäden aus dem Gesicht zog, als würden sie auf seiner Haut brennen. Ich kicherte nur schadenfroh. Gleich wandte er sich zu mir um und sah mich mit wütenden Augen an, konnte sich jedoch ein sanftes Schmunzeln nicht verkneifen, als sich unsere Blicke trafen.
„Vielleicht solltest du vorgehen.", meinte er und drückte mir die Taschenlampe in die Hand. Seine Stimme schallte in dem langen, hohlen Gang. Nickend nahm ich die Taschenlampe entgegen und schob mich an ihm vorbei. Es war so schmal, dass ich die spitze Höhlenwand an meinen Rücken spüren konnte und unsere beiden Oberkörper sich streiften.
Ich war froh, dass es dunkel war, denn so konnte er mein Gesicht nicht sehen, das rot anlief. Dabei trugen wir noch dicke Jacken und ich musste mir vorstellen, wie diese Situation wohl im Sommer gewesen wäre, wenn unsere Körper bloß von einem dünnen Stoff bedeckt worden wären. Schnell wischte ich den Gedanken beiseite. Hier brauchte man volle Konzentration, denn der Untergrund war uneben und etwas rutschig. Außerdem lagen viele kleinere, einzelne Gesteinsstücke herum, auf denen man schnell ausrutschen konnte – ich sprach aus Erfahrung. Viel zu oft hatte ich mir als kleines Kind schon die Knie in dieser Höhle aufgeschlagen.
„Sei vorsichtig, hier kann man leicht-.".
„Wuah!", hörte ich hinter mir und im gleichen Moment fiel mir ein schwerer Körper in den Rücken. Ich strauchelte nach vorne und wurde gegen die spitze Wand gepresst. Der Körper folgte. Obwohl Jensen sich gerade so mit beiden Armen an dem Gestein abstützen konnte, konnte er nicht verhindern, dass ich gegen die Wand fiel. Seine Hände waren direkt links und rechts neben meinem Kopf, sodass ich zwischen ihm und dem Gestein gefangen war. Ich spürte seinen heißen Atem in meinem Nacken und erschauderte.
„Oh, tut mir leid.", wisperte er entschuldigt und löste sich blitzartig von mir. „Alles okay?".
Ich spürte einen heißen, pochenden Schmerz an meiner Wange. Bei dem Aufprall musste ich mich an dem rauen Gestein verletzt haben. Aber ich war abgehärtet und so ignorierte ich die Wunde. „Ja.", log ich. „Alles okay.". Ich berührte unauffällig meine Wange, als sich Jensen bückte, um die Taschenlampe aufzuheben, die ich vor Schreck fallen gelassen hatte. Ein elektrischer Schlag durchfuhr meinen Körper und ich zuckte kaum merklich zusammen. Als ich meine Finger wegnahm, spürte ich etwas Warmes, Klebriges an ihnen. Blut.
„Hier.", sagte Jensen, erhob sich und reichte mir die Taschenlampe.
„Danke.", murmelte ich. Dann setzten wir unseren Weg fort und kamen ohne weitere Komplikationen zum Ziel unserer Reise.
Es sah noch immer so aus wie früher. Wir standen nun in einem kuppelförmigen Gebilde aus Stein. Im Durchmesser etwa zehn Meter breit, vielleicht auch etwas weniger. Am anderen Ende konnte man am Boden ein Loch sehen, durch das man – durch Kriechen – ins Freie kommen konnte. Es war also unser eigener, kleiner Notausgang. In der Mitte der Kuppel war ein kleiner Kreis aus Steinen geformt worden, der als Lagerfeuerplatz dienen sollte. Darin befanden sich noch Überreste von den Holzscheiten, die wir immer von Großonkel Rolf geklaut hatten und uns in unserem kleinen "Reich" ein Vorrat angelegt hatten.
„Wow.", hörte ich Jensen hinter mir murmeln. Als ich schon zielstrebig zu unseren Sachen ging, die wir in der hintersten Ecke mit einer dreckigen Plane überdeckt hatten, blieb er noch am Ende des Gangs stehen und sah mir unsicher hinterher.
Mit einem Ruck entfernte ich die Plane und zum Vorschein kamen drei alte, große Kissen und zwei ebenso alte Wolldecken. Außerdem ein kleiner Haufen von Holzscheiten und einer Holzkiste, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatte. Darin befanden sich eine kleine Flasche Spiritus, ein Feuerzeug, weiße Kreide, ein platter Fußball, ein Taschenmesser, zwei Flaschen Wasser (aus denen man besser nicht mehr trinken sollte), ein Beutel voller Sand und ein dreckiger Teddybär, dem bereits ein Auge fehlte.
„Ihr hattet ja wirklich an alles gedacht.", hörte ich Jensen plötzlich direkt hinter mir sagen und zuckte zusammen. Ich hatte gar nicht mitbekommen wie er hinter mich getreten war.
„Hier.", sagte ich und reichte ihm drei Holzscheiten. „Leg das schon mal in den Steinring.".
Ohne eine Antwort gehorchte der Schauspieler. Ich schnappte mir währenddessen zwei Kissen und die Wolldecken und platzierte sie neben der Feuerstelle. Dann schnappte ich mir das Spiritus und das Feuerzeug und machte ein Feuer.
Die plötzlichen Flammen erleuchteten die Höhle mit einem Schlag. Schatten tanzten an den Wänden. Nun voll und ganz fasziniert von diesem Ort, drehte sich Jensen im Kreis und betrachtete die – mit Kreide gemalten – Zeichnungen, die die Gesteinswände zierten.
„Eine künstlerische Familie.", erwiderte er voller Ironie und setzte sich auf einer der Kissen, während er seine Hände an den Flammen wärmte.
„Ach sei ruhig.", knurrte ich lächelnd und starrte verlegen auf die kritzeligen Strichmännchen an der Wand, die meine Brüder und mich darstellen sollten. „Wir waren halt nur Kinder. Gerade einmal sieben, neun und elf Jahre alt.".
Obwohl die kläglichen Versuche von Menschendarstellung gescheitert worden war, schien Jensen trotzdem nicht genug davon zu bekommen. Mit einem sanften Schmunzeln musterte er jedes bildhafte Element und blieb mit seinem Blick plötzlich an einem stehen, das sich direkt gegenüber von uns befand. Es waren bloß drei Strichmännchen, die sich an den Händen hielten. Eins kleiner als das andere. Über den einzelnen Figuren stand ich krakeliger Kinderschrift: "Phie, Al, Dus".
Ich musste lächeln. Selbst für einen Namen aus vier Buchstaben hatten wir noch einen Spitznamen gefunden.
Langsam ließ ich mich neben Jensen nieder, der sich schließlich von der "Kunst auf höchstem Niveau" losreißen konnte. In seinen Augen schimmerte ein Glanz, der mir eine Gänsehaut verpasste. Schnell erstarb dieser jedoch, als sein Blick auf meine rechte Wange fiel.
„Was ist das?", fragte er besorgt und deutete mit seinem Finger auf seine eigene Wange.
„Ach nichts.", winkte ich ab. „Nur eine Schramme.".   
„Das sieht aber nicht nach 'nichts' aus.", entgegnete er mit besorgter Miene. „Du solltest das so schnell wie möglich desinfizieren.".
„Das ist wahrscheinlich das einzig Brauchbare, das wir nicht hier versteckt haben.", kicherte ich und entlockte auch Jensen ein Grinsen. Dann deutete er belustigt auf das Feuer.
„Kein Problem, wir brennen die Wunde einfach aus.", witzelte er.
„Genau.", lachte ich. „Vergiss aber nicht vorher draufzupinkeln.".
Er erwiderte das Lachen und deutete dann an seine Hose zu öffnen. „Klar doch.", kicherte er belustigt und ließ dann von seiner Hose ab.
Viele solcher Späße machten wir in dieser Nacht. Wir redeten über Träume, über verpasste Chancen, über uns. Wir redeten und redeten, bis das Feuer – nach mehrmaligen Nachlegen von Holz – schließlich fast heruntergebrannt war. Dies war das Zeichen für unseren Aufbruch. Als ich den Beutel Sand über der Glut ausschüttete, bemerkte ich durch unseren kleinen Notausgang ein paar orangene Sonnenstrahlen.
„Es hat scheinbar aufgehört zu schneien.", kommentierte ich es und riss Jensen aus den Gedanken, der gerade alle Sachen wieder mit der Plane bedeckte.
Etwas enttäuscht sagte er: „Dann könnt ihr beide ja jetzt aufbrechen und nach Hause fahren, bevor es wieder anfängt.".
Als Antwort nickte ich und griff nach der Taschenlampe. „Dann komm.", sagte ich zu ihm und ging vor.

Wie Rome und JuliaWhere stories live. Discover now