leblos in London

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Die nächsten Tage verliefen ohne jegliche Zwischenfälle. Ich stand jeden Morgen auf und ging jeden Abend zu einer annehmbaren Zeit wieder ins Bett. Addison war krank, weswegen meine Therapiestunden schon seit ungefähr einer Woche ausfielen. Jeden Tag ging ich in die Schule und mein neugewonnener Banknachbar hielt sich mit seinen nervigen Kommentaren zum Glück zurück. Wenn ich Will sah, rannte ich weg, ich konnte ihm irgendwie nicht in die Augen schauen. Nach der Schule ging ich meistens nach Hause, war aber auch ein paar Mal an Rose's Grab. Ich schrieb ihr keine weiteren Briefe, da ich keine Kraft mehr hatte. Ich war es so leid, mir immer die Augen aus dem Kopf zu heulen. Ich ernährte mich gesund und ich trieb Sport. Es wirkte vielleicht, als würde sich mein Leben langsam wieder normalisieren, das stimmte vielleicht auch, aber ich selber fühlte mich kein Deut besser. Ich fühlte mich wie ein Roboter. Ein Roboter mit dem wahrscheinlich beschissensten Leben auf der ganzen Welt.
Auch heute war wieder so ein "normaler" Tag. Meine Eltern waren wahrscheinlich in einem anderen Land, aber egal. Ich stand auf und stieß mir meinen Fuß an meinem Bett. Ich schrie laut auf. Ich war, was das anging, wirklich sehr empfindlich. Ich trat ein paar Mal gegen das Bett. Wenn mir sowas passierte, war ich dann immer sauer auf die Gegenstände. 
Als ich mich endlich wieder beruhigt hatte, schaute ich, warum auch immer, in den Spiegel. Ich betrachtete mich. Ich bekam wieder ein bisschen mehr Farbe, obwohl ich hier im verregneten London war. Meine Augenringe waren nicht mehr ganz so tief und blau. Meine Wangenknochen stachen nicht mehr aus meinem Gesicht heraus. Meine Haare waren ziemlich lang geworden und sie sahen sehr gepflegt aus. Ich sah generell gesünder aus, besser irgendwie. Das machte mich glücklich. Ich hatte mich lange nicht mehr ansatzweise wohl in meinem Körper gefühlt.
Was jetzt kommt, war wahrscheinlich eine Kurzschlussreaktion, auf alle Fälle kam ich auf die Idee, ein Kleid anzuziehen. Ich nahm mir ein weißes Spitzenkleid, das ziemlich kurz war, aus meinem Schrank. Eigentlich trug ich nie Kleider. Nur Rose. Rose hatte viele Facetten. Mal war sie ganz schlicht gekleidet, dann wieder sportlich oder elegant. Ich war, was Anziehsachen anging, immer der praktisch veranlagte Typ. Rose hatte natürlich dafür gesorgt, dass ich auch Sachen in meinem Schrank hatte, die nicht meinem Kleidungsstil entsprachen, und dafür war ich ihr irgendwie gerade dankbar. Ich machte noch Schmuck drum. Ich lockte meine Haare, schminkte mich dezent, zog schwarze Boots an und packte mein Schulzeug in einen braunen kleinen Lederrucksack. Als ich in den Spiegel schaute, musste ich lächeln. Es war kein gezwungenes Lächeln, sondern ein ehrliches und aufrichtiges. Rose wäre unglaublich stolz auf mich, weil ich ein Kleid anhatte, aber noch mehr, weil ich mich langsam wieder anfing aufzurappeln. Ich schnappte mir einen Apfel und machte mich mit meinem Auto auf dem Weg in die Schule. Ich hörte Musik und ich sang laut mit. Mir war es in dem Moment egal, wie mich die Leute aus den anderen Autos anschauten. Ich wollte diesen kurzen Moment, in dem es mir halbwegs gut ging, ausnutzen. Mir ging es ein bisschen besser, aber trotzdem noch nicht wieder gut. Ich hatte das Gefühl, jetzt, wo Rose weg war, würde ich nie wieder richtig glücklich werden.
An der Schule angekommen, parkte ich mein Auto. Als ich ausstieg, schmiss ich meine Tür zu. Laut, richtig laut. Alle unterbrachen das was sie gerade taten und schauten mich an. Es war wirklich so still. Ich dachte mir nur: Toll gemacht Anastasia. Was schauten die mich alle so dumm an, bloß weil ich mal die Tür zu laut zu gemacht hatte? Aber da fiel es mir auf, wahrscheinlich weil ich ein Kleid anhatte und mal wieder etwas gepflegter aussah. Ich gab mir Mühe einen Fuß vor den anderen zu setzen um nicht hinzufallen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich endlich den Türklinkenknauf von der Schule in der Hand hatte und die Tür aufzog. Hier drinnen hatte zum Glück niemand etwas von meinem Auftritt mitbekommen, weswegen ich unentdeckt zu meinem Schließfach kam. 
Ich packte mein Zeug in meinen Rucksack. Gerade als ich die Tür zuschlagen wollte, kam mir jemand zuvor. Ich drehte mich schnell um und blickte in Wills braune Augen. Ich war sozusagen gefangen, was mir wirklich ausgesprochen unangenehm war:"W-I-L-L, was machst du denn hier?" Mist, warum fing ich jetzt an zu stottern? Er lachte: "Ach Ana, du bist.. " Ich ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen: " Sag nichts, ich will nichts hören, kein Wort, halt einfach die Fresse. " Ich schaute ihn böse an, er öffnete seinen Mund und ich machte eine Handbewegung, um ihm zu zeigen, dass es böse enden würde, würde er mich jetzt zulabern. Dann drückte ich ihn von mir weg und stolzierte zu meinem Klassenraum. Nach Außen hatte ich gerade vielleicht stark gewirkt, aber innerlich war mir mein Herz in die Hose gerutscht. 
Ich ließ mich auf meinen Platz fallen. Mein Banknachbar grinste mich an. "Reifer Auftritt auf dem Hof Montgommery." Ich zischte ihn an:"Du bist einfach ruhig, dich kann ich heute nicht auch noch ertragen" Er murmelte irgendwas von wegen heute wohl mit dem falschen Fuß aufgstanden, aber ließ mich dann zum Glück in Ruhe. 
Nach der Schule fuhr ich zu Addison in die Praxis, sie war wieder gesund. Ich ging mit einem besserem Gefühl im Magen in die Praxis, als letztes Mal. Lauren meinte, ich solle gleich durchgehen, was ich dann auch tat. "Hey Ana", Addison lächelte mich freundlich an. "Hallo", ich versuchte zurück zu lächeln, was mir glaube ich, nicht gelang. Sie meinte, ich sollte mir doch bitte setzten. Sie schaute mich an, ich überlegte ob ich etwas sagen sollte, aber sie kam mir schon zuvor:"Ana ich will mit dir offen über deine Behandlung reden, aber zuerst musst du mir einfach erzählen, was passiert ist, was du dabei empfunden hast, wie es dir jetzt geht. Du musst mir sozusagen zeigen, wie es in dir drinn aussieht." Ich schaute sie einfach nur an, mit einem Schlag war mir diese Therapeutin unsympathisch. SIe hatte kein Recht mich so etwas zu fragen, sie hatte so etwas schlimmes nicht getan. Sie hatte nicht das Leben ihrer besten Freundinn auf dem Gewissen. Ich nahm meinen Rucksack und ging. Ich hatte keine Lust mehr auf sie.
Ich fuhr noch schnell zu Starbucks, aß dort Abendbrot, fuhr nach Hause und legte mich dann in mein Bett. Mein letzter Gedanke am Tag galt, wie immer eigentlich, Rose.

IN LOVE ANASTASIAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt