Unkonventionelle Wege [KAPITEL 49]

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Manchmal muss man altbekannte Wege verlassen, um an ein Ziel zu kommen, wenn auch das meinige nicht sonderlich durchdacht war. Aber egal was ich durch mein Handeln erzeugte, schlimmer als das ohnehin bereits Geplante konnte es nicht sein. Diese traumhaften Vorstellungen könnten natürlich auch nur sehr entfernte Wünsche meinerseits sein. Doch irgendetwas schien diese Befürchtungen in mir zu mindern. Im Moment schien mir alles völlig unwichtig zu sein. Einzig mein Ziel Antworten zu bekommen war von Bedeutung, Antworten und eine Flucht. Deswegen schreckte ich auch nicht davor zurück -nicht einmal eine Sekunde dachte ich über die Folgen nach- als ich mit geballter Faust auf den verwundeten, linken Oberschenkel des Soldaten schlug.
"Ahh! Was z-", brüllte er erneut los, doch ich stoppte ihn, indem ich ihm den Mund zu hielt. Meinen Kopf schüttelnd blickte ich mit gespielt trauriger Miene auf den vor Angst und Wut zitternden Mann vor mir hinab. Sein Zittern entstammte sicherlich der Furcht, doch der Zorn spiegelte sich in seinen schmalen Augen wieder. Es war gespielter Zorn. Bei diesem Mann dominierte ganz sicher die Todesangst.

"Antworten", sprach ich, sobald ich mein Kopfschütteln beendet hatte, "Ich werde kein weiteres Mal freundlich nachfragen. Nutzen Sie ihre Chance. Es könnte Ihre letzte sein." Langsam entfernte ich meine Hand wieder vom Mund des Mannes, der schwer nach Luft schnappte. Sein gleisender Blick verschwand allerdings nicht. Für einen verängstigten Mann nahm er einen ganz schönen Kampf auf sich. Etwas beeindruckt war ich deswegen schon. Ich wartete noch ein paar wenige Sekunden, sah anschließend zur Seite und überlegte mir meine nächste Schritte. Dann drehte ich mich abrupt zurück zu dem Soldaten. Ohne einen Ton von mir zu geben und ohne hinzusehen drückte ich zwei Finger meiner noch immer gefesselten Hände in die blutende Schusswunde. Er schrie wieder und wieder, unterbrochen nur von seinen eigenen verzweifelten Versuchen Luft zu holen und Kraft zu sammeln, während er sich wie ein Fisch unter meinem Griff wand. Doch es war ohne Erfolg. Ich ließ nicht locker.

"Okay, okay!", knurrte er mit aufeinander gepressten Zähnen, "Was wollen Sie wissen? Was hier vorgeht?" Der Atem des Mannes schien immer hektischer zu werden, je mehr ihm die Wut verließ, die ihn stark gemacht hatte.
"Ganz einfach, ganz einfach", er schnappte nach Luft, als ich fester in die Wunde drückte. Klopfte sogar mit der Faust auf den Boden, um sich abzulenken. "Stopp! Ich rede!", er hielt inne, wieder um nach Atem zu ringen, "Ich rede."

Zufrieden ließ ich von seiner Wunde ab, ließ meine Hände aber nahe genug an ihr liegen, um jeder Zeit weiter machen zu können.
"Ich-ich", der Soldat sah erschöpft und besiegt aus, als er nach Worten suchte, doch seine Augen wurden rasch von einem schelmischen Schein übernommen, "weiß gar nichts." Vielleicht war es das fiese, siegessichere Grinsen, oder die Art wie er mir geantwortet hatte, aber ich schaffte es nicht meine aufkommende Wut zu unterdrücken. Zornig und mit gefletschten Zähnen packte ich den Mann am Kragen, soweit mir das möglich war, und zog ihn hoch. Sofort erstarrte der Soldat."Flasche Antwort", zischte ich bedrohlich. Und ehe er sich versah richtete ich mich zusammen mit ihm auf und schleuderte ihn gegen die Wand gegenüber der Tür. Mit einem plumpen Geräusch kollidierte sein Rücken mit der Wand. Nur ein heiseres Grummeln schaffte es über seine Lippen, als er keuchend an der Wand lehnte. Für einige Augenblicke ließ ich ihn alleine so sitzen, ließ die Furcht seinen Hals anschwellen, ließ ihn in verzweifelnder Panik zurück. Ich konnte sehen wie, trotz finster erscheinendem Gesichtsausdruck, seine Atmung auf eine seltsam belustigende Weise immer schneller wurde. Seine Brust hob und senkte sich schwer, seine rechte Hand lag nutzlos neben ihm, während weiterhin Blut aus dieser, und seiner anderen Wunde am Bein floss. Das kleine Lächeln nicht unterdrücken können, ließ ich es einfach zu, als ich auf den verwundeten Mann zukam. Auf dem Weg sammelte ich noch die auf dem Boden liegende Pistole ein. Sicher war sicher.
"Sie haben ihre Chance verspielt", fauchte ich, sobald ich direkt vor ihm stand und befestigte die Waffe an meiner Hose.

Trotz der Wut, die in mir brodelte, waren meine Schläge gezielt und präzise. Mein Erster landete erneut auf der Nase des Soldaten, die einen knackenden Laut von sich gab. Falls sie zuvor noch nicht gebrochen war, dann war sie es auf alle Fälle jetzt. Ein Gefühl der Zufriedenheit rollte über mich wie eine Welle es tat. Ich machte weiter. Zuerst ein weiterer Schlag auf seine Wunde am Bein, er jaulte auf, dann gegen seine Schläfe, er keuchte nur, ein paar auf den Magen, er krümmte sich.
Nach wenigen Minuten stoppte ich. Meine von den Schlägen schmerzenden Hände ignorierte ich, sie würden sowieso gleich heilen, anders als die Wunden des Mannes. Einen Schritt nach hinten gehend, betrachtete ich den vorhin noch so gehässigen Soldaten. Blut klebte überall. An seinem Gesicht, seinen Klamotten, sogar an der Wand, an der er lehnte. Zittriger Atem kroch über seine aufgeplatzten Lippen, der Mund leicht und schief geöffnet. Seine Brust hob und senkte sich nur noch flach und stotternd. Die Haare hingen ihm an der vom Schweiß und Blut nassen Stirn. Blaue Flecken bildeten sich langsam auf seiner noch sichtbaren Haut. Eines seiner Augen war angeschwollen und deswegen geschlossen, das andere war nur zur Hälfte von dessen Augenlid bedeckt, blickte starr vor sich.
"Immer noch keine Antwort?", mein Ton war spottend. Zuerst regte sich der Mann nicht, sammelte wahrscheinlich seine letzten Kraftreserven, bevor er den Kopf schüttelte. Ich trat wieder direkt vor ihn, hielt kurz inne, dann stellte ich mich mit einem Fuß und all meiner Kraft auf die schwer verletzte Hand des Soldaten. Kurz brüllte er auf, ehe er die Lippen fest aufeinander presste und sich gewiss auch auf die Zunge biss.
"Ganz sicher?", hakte ich mit dunkler Stimme nach. Der Soldat blieb stumm. Ich ließ von seiner Hand ab, wodurch der Mann vor mir erleichtert ein- und anschließend ausatmete. Kurz wartete ich, begutachtete das Bild vor mir, dann griff ich nach der Pistole und richtete sie auf das schwach schlagende Herz des Mannes. Seine erneut aufsteigende Panik ließ ihn hektischer einatmen, doch es klang rasselnd. Lange hätte er sowieso nicht mehr. Seine Lungen füllten sich bestimmt schon mit seinem eigenen Blut an.

Ich schoss. Der Knall donnerte durch den Raum, verdrängte die vorherige Stille. Kein Ton schaffte es mehr über seine blutigen Lippen, als die Wut und die Angst in seinen Augen erlosch und sein Kopf leicht zur Seite sackte. Eine ganze Weile stand ich erstarrt vor dem Mann, Waffe noch immer erhoben und mit beiden Händen zitternd festhaltend. Fassungslos hielt ich inne, hielt meinen Atem an. Ich blinzelte mehrmals, versuchte zu begreifen, was gerade eigentlich geschehen war.
Der Soldat ... war tot. Wegen mir.
Realisation traf mich mit ihrer vollen Wucht, presste mir die Luft aus den Lungen, wie es die Kugel bei dem Mann getan hatte. Als ich abgedrückt hatte. Erschrocken von mir selbst und meiner Bereitwilligkeit diesen Mann umzubringen, umgebracht zu haben, ließ ich die Pistole laut scheppernd auf den kalten, harten Boden fallen. Mit flachem Atem sah ich auf meine zitternden Hände, die von Ergüssen und, Blut übersäht waren. Zurückstolpernd entfernte ich mich von der Leiche des Mannes, soweit es mir die Metallkette erlaubte. Meine Gedanken rasten. Was hatte ich getan? Warum hatte ich es getan? Meine Atmung schien sich mit jeder weiteren Sekunde zuzuspitzen. Ein seltsamer Druck lag auf mir, der mich immer tiefer in den Boden zu drückte. Meine Augen schließend sank ich auf meine Knie, vergrub das Gesicht in meinen Händen und versuchte irgendeinen Sinn aus der Situation zuziehen. Heiße Tränen liefen mir die kalten Wangen hinab, als ich mich auf den Boden zusammenkauerte.
Ich hatte mich nicht wie mich selbst gefühlt. Es war, als wäre ein Schalter in mir umgelegt worden. Der Schalter, der mich zurückhielt. Der Schalter, der mich nicht die Kontrolle verlieren ließ. Jetzt war er wieder so wie er gehörte, wieder unter meiner Obhut. Doch zuvor, da hatte man ihn mir entrissen.

In meiner hektischen Panik bemerkte ich zuerst nicht, dass die Tür geöffnet wurde. Erst als sich die Schritte mir näherten wirbelte ich umher. Vor mir stand Zola. Zufrieden blickt er auf mich herab.
Ich wich etwas zurück, überkam mich plötzlich die Angst. Irgendetwas hatte er mir angetan. Irgendetwas hatte er an mir ausprobiert. Denn das konnte und wollte einfach nicht ich gewesen sein. Das durfte nicht mein Werk gewesen sein. Irgendetwas ausprobiert. Natürlich, dafür war ich die beste Wahl. Schließlich konnte ich heilen. Warum auch nicht? Was konnte ich schon dagegen tun? Gar nichts.
Meine Furcht und verzweifelten Versuche mich selbst zu beruhigen schlugen in Wut um, wenn auch nicht lange, wenn auch nur kurz. Aber dieser kleine Augenblick genügte mir.
"Was haben Sie mit mir gemacht? Was haben Sie mir eingeflößt?", zornig schmetterte ich ihm diese Worte entgegen, danach verrauchte die Wut auch schon wieder und die Angst kroch zurück in meine Knochen. Ich zwang mich, meine Augen nicht aufzureißen, sondern zu schmalen Schlitzen zu verengen. Wenigstens sollte ich den Schein von Kontrolle erwecken, obgleich ich mich fühlte, als wäre ich hundert Jahre davon entfernt.
Zola ließ sich von mir allerdings nicht beeindrucken. Er wusste sicherlich wie es wirklich in mir aussah: Riesige Wellen, die in meinem Inneren tobten und mich zerrissen.
Die Augen meines Gegenübers sprachen Bände. Er wusste es ganz genau.

"Wir, oder besser ausgedrückt, Sebastian hat Ihnen ein Serum verabreicht", Zola hielt inne, ließ die Wasserwogen weiter wüten, "Dieses Serum schraubt Ihre Hemmschwelle nach unten. Das einzig wichtige wird für Sie das Ziel der Mission sein. Da wir Ihnen keines vorgelegt haben, war ich interessiert, wie es in einem solchen Szenario wirken würde. Die Ergebnisse haben mich nicht enttäuscht."

Sie hatten mir tatsächlich etwas eingeflößt. Etwas, dass sie mir wahrscheinlich öfter geben werden. Etwas, dass mich noch mehr zu ihrer Marionette machte.
Mein Atem spitzte sich bei diesem Gedanken zu. Ich schielte zu der Leiche hinter mir.
Das war nicht ich gewesen. Das konnte nicht ich gewesen sein. Und doch hat es sich so ... normal angefühlt. Aber wie schon gesagt: Ich war die beste Option um solche Substanzen zu testen. Dass sie dann allerdings gleich einen ihrer Soldaten opferten? Doch, auch das passte ins Bild. Der Mann war eindeutig von niedriger Stufe, unprofessionell und litt an deutlichen Wutproblemen. Er hatte sich überlegen gefühlt und mir in jeder Sekunde Stress zugefügt. Bei ihm hatten sie eine hohe Wahrscheinlichkeit gehabt, dass ich ... dass das Serum anschlagen würde. Und so ist es auch geschehen.
Mein trüber Blick wanderte zurück zu Zola, der noch immer so vor mir stand wie zuvor: zufrieden.
Er kam einen Schritt weiter auf mich zu und legte mir eine Hand auf den Kopf, nachdem ich diesen gesenkt, meinen Blick gegen den Boden gerichtet hatte. Ein unangenehmer Schauer lief mir den Rücken hinab. Ein starker Würgereiz überkam mich, allerdings nicht so prägnant, als dass ich mich wirklich übergeben hätte können. Vielleicht war das auch besser, obgleich ich mir dadurch krank vorkam. Ich wollte nicht vor Zolas Füße erbrechen.
"Das haben Sie gut gemacht", sprach er mit Stolz in der Stimme, den ich nicht empfangen wollte. Dieser konnte nicht an mich gerichtet sein. Auf das Serum?

Nein, er meinte mich und meine Tat.
Den ungerechtfertigten Tod des Mannes.
Den Mord, den ich begangen hatte.

How to become a Winter SoldierWo Geschichten leben. Entdecke jetzt