Kapitel 4

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Das Briefpapier brannte noch immer in meinen Fingern, als ich einige Stunden später nach wie vor benommen in einem der abgenutzten Sessel im Wohnraum saß. Wie immer wenn ich nervös war, kaute ich auf meinen Haarspitzen und blickte beunruhigt durch die Gegend. Die Worte von Marcus und Skay hatte ich seit unserer Ankunft noch nicht zu mir durchdringen lassen. Ich war wie taub und völlig alleine mit mir und meinem zukünftigem Schicksal als Blutspenderin beschäftigt. Tausende von Fragen schossen mir durch den Kopf, so wie der rote Lebenssaft durch meine Adern. Ich konnte Skay nicht alleine in Marcus Obhut lassen. Was, wenn er eines Abends verschwunden war und Skay einfach mitgenommen hatte? So ein blödes Blatt Papier konnte mir doch nicht befehlen, was ich zu tun hatte. Ich war niemand, dem man so einfach etwas vorschreiben konnte, aber die tintenschwarzen Buchstaben fühlten sich schon jetzt wie Ketten des Kapitols an.

»Es ist kein Priorität 1-Fall, Ailina«, versuchte Marcus zu mir durchzudringen. »Du kannst also hier wohnen bleiben und musst nur ein paar Tage in der Woche in den Dienst treten.«

Leicht irritiert begann ich zu seufzen und kehrte erstmals in die Realität zurück. Sollte das etwa ein Aufmunterungsversuch von Marcus sein? Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Marcus kräftige Hand sich meinem Knie näherte. Abrupt stand ich auf und ging mit zitternden Schritten auf die gegenüberliegende Seite des Wohnraums. Wie konnte es nur so weit kommen? Noch vor einem Jahren hatten wir hier als dreiköpfige Familie gelebt. Gina, Skay und ich. Die Erinnerung an unser zwar hartes, aber dennoch zufriedenes, marcusfreies Leben stach wie ein scharfes Messer. Dieses Messer war der Staat selbst und in diesem Augenblick hatte ich eine unglaubliche Wut auf alles, was das Kapitol bisher angerichtet hatte. Im letzten Moment konnte ich verhindern, dass salzige Tränen aus meinen Augen liefen. Als ich mich etwas beruhigt hatte, schaute ich zum Sofa zurück. Skay war inzwischen eingeschlafen und ruhte auf Marcus linkem Arm. Ich spürte ein Ziehen in der Magengrube. Wenn ich mich dem Staat Agalega widersetzen würde, wusste ich, dass ich Skay wohl niemals wiedersehen würde. Damit hätte ich das Versprechen gebrochen, was ich Gina gegeben hatte. Ich presste meine bebenden Lippen zusammen und ließ mir die Worte des Briefes nochmals durch den Kopf gehen. Marcus hatte Recht, ich war einem einfachen Soldaten zugeteilt worden, was bedeutete, dass ich dafür nicht in das Kapitol ziehen musste. Ich konnte hier bleiben, bis auf zwei oder drei Tage in der Woche, an denen ich mein Blut spenden musste. Langsam gelang es mir mich zu beruhigen und pragmatisch zu denken. Das zusätzliche Geld konnten wir ebenfalls gut gebrauchen, da Skay in weniger als zwei Jahren das Schulalter erreichen würde und mit der Einschulung in eine private Schule immense Kosten auf uns zukommen würden. Skay sollte den Zugang zu Bildung bekommen, das war Gina und mir schon immer wichtig gewesen. Und letztlich musste ich so gut es ging unabhängig von Marcus finanziellen Mitteln sein, sodass ich nicht schuldentechnisch an ihn gebunden werden konnte.

»Skay sollte in ihrem richtigen Bett schlafen.« Ich nickte in Richtung meiner Nichte, woraufhin sich Marcus schweigend erhob.

»Du solltest auch versuchen zu schlafen, du siehst blass aus.« Marcus trat mit Skay auf dem Arm auf mich zu, mit seiner freien Hand streifte er meinen Arm, ehe er das Zimmer verließ. Mit Marcus in einem Raum zu sein, war nach wie vor erdrückend und auch die Ereignisse des Tages und die abgestandene, staubige Luft machten mir das Atmen schwer. Ich beschloss die übrigen, noch nicht herunter gebrannten Kerzen zu löschen und auf mein Zimmer zu gehen. Schließlich würde der morgige Tag eine anstrengende Reise in das Kapitol beinhalten, wo ich mich als Spenderin offiziell melden und registrieren lassen musste.

***

Schon wieder spürte ich das kühle Leder der blankpolierten Automobile des Staates unter meinen Händen. Schwer wie Blei wog der Briefumschlag auf meinen Schoß, als die klein und eng aneinander geschmiegten Häuser unserer Vorstadt, den grauen und leblosen Betonklötzen des Kapitols wichen. Marcus hatte es sich nicht nehmen lassen, mich zur Untersuchungs- und Registrierungsbehörde zu begleiten. Angeblich hatte er dort noch selber Dinge zu erledigen. Seit seiner Ankunft vor ein paar Tagen fragte ich mich immer wieder, inwieweit sein Körper von den Giften da draußen von innen durchflutet worden war. Er machte nicht den Eindruck, als hätten ihm die Tage an der vergifteten Front körperlich etwas ausgemacht. Ob auch ihm eine Spenderin zugeteilt werden sollte, wusste ich nicht.

Die BlutspenderinWhere stories live. Discover now