Prolog - Exitus

180 7 0
                                    

Nun war es zwei Tage her. Zwei Tage, seit ich mit Ren zusammen gekommen war, am neunzehnten August. Ich war darüber glücklich, so unbeschreiblich glücklich, wie ich mich noch nie zuvor in meinem Leben gefühlt hatte. Doch trotzdem saß ich seit einer halben Stunden auf meiner Fensterbank und starrte ohne irgendwas zu machen aus dem Fenster. Eigentlich sollte der Tag schön sein, so wie die vorherigen beiden, die ich bei Ren verbracht hatte, auch. Doch als ich dann wieder zuhause war, hatte mein Vater es innerhalb weniger Minuten geschafft, mich zu einem emotionalen Wrack zu machen. Als ob das noch was Neues sei. Bis vor ein paar Wochen hatte ich noch gedacht, es würde nicht oft vorkommen, dass er auf mich einschlug oder mich anderweitig verletzte. Immer öfter hatte er einen Grund dafür gefunden, immer öfter hatte ich Fehler gemacht, die es wert waren dafür bestraft zu werden.

Es war noch nie so schlimm wie zurzeit. Bin ich so falsch? Bin ich so fehlerhaft, dass ich so etwas verdiene? Vielleicht. Ja. Warum bin ich so?

Eine Träne rollte aus meinem linken Auge meine Wange hinunter, welche ich ohne zu zögern binnen Sekunden wegwischte. Ich stand auf und schlug dann sofort mit meiner Hand, die ich zur Faust geballt hatte, immer wieder auf die Wand vor mir ein, bis ich anfing zu bluten. "Hör auf zu weinen, Idiot!", schrie ich mich selbst an, laut, aber immer noch leise genug, sodass mein Vater es nicht hören würde.

Wütend auf mich selbst ging ich in das Badezimmer, das an meinem Zimmer angebaut war, und wusch das Blut von meinen Händen. Ich riss einen der Schänke auf, der sich hier befand, und nahm dort einen silbernen Gegenstand heraus. Ohne überhaupt darüber nachzudenken setzte ich damit an meinem Arm an und zog die scharfe Klinge durch. Ich konnte dieses Gefühl, das dabei entstand, nicht beschreiben. Es war wundervoll. Ich liebte den Anblick meiner zerschnittenen Haut, der dunkelroten Flüssigkeit, die meinen Arm hinunterfloss. Ich fühlte mich so viel besser, doch gleichzeitig brachte es mir nichts als Probleme. Ich wusste, dass ich es sein lassen sollte, aber es ging nicht. Anders konnte ich diese Schmerzen nicht kompensieren, ich konnte den Druck nicht anders loswerden, nicht einfach so vergessen. Es war so widersprüchlich, dass ich mir Schaden zufügte, um die innerlichen Schäden, die mit jedem Atemzug größer wurden, zu vergessen, dass ich mir, um den Druck loszuwerden, nur mehr Druck aufbaute.

Ich wollte meinen Selbsthass vergessen, jedoch würde ich mich durch meine selbstzerstörerische Art im Nachhinein nur mehr hassen, und das wiederum förderte diese tödliche Sucht. Es war ein Teufelskreis, aus dem ich nicht entkommen würde, selbst wenn ich gewollt hätte. Es war unmöglich.

Als ich mich beruhigt hatte, legte ich die Klinge beiseite und sah mir das Chaos an. Auf dem Boden und im Waschbecken war überall Blut, mein Arm war von der roten Substanz bedeckt. Hab ich übertrieben? Um das Blut vom Boden und vom Waschbecken aufzuwischen, bevor es trocknete, nahm ich mir ein Taschentuch, welches ich, nachdem ich fertig geworden war, wegwarf. Damit mein Ärmel später nicht rot eingefärbt werden würde, band ich einen Verband um meinen Arm. Ich ging aus dem Badezimmer raus und stellte mich ein weiteres Mal vor mein Fenster, so tuend als sei nie etwas passiert.

Für einige Minuten war ich ruhig, ich dachte an nichts, hatte keine Gedanken, nur diesen dumpfen, pochenden Schmerz in meinem Unterarm. Doch als ich auf den Verband sah, realisierte ich es wieder. Ich realistierte wieder, dass mein komplettes Leben auf einer großen Lüge basierte. Dieses Wissen zerstörte mich. Ich hatte Angst davor ihnen die Wahrheit zu beichten, doch genauso wollte ich nicht mehr lügen müssen. Ein weiterer Widerspruch, hinter dem ich mich versteckte, hinter dem mein Ich zu sein schien.

Plötzlich brach ich vor meinem Fenster zusammen, während ich schon wieder weinte. Wieso konnte ich nicht einfach glücklich sein? Wieso musste ich unglücklich sein? Ich hasse mein Leben! Ich hasse mich! "WARUM...?!"

Eine gefühlte Ewigkeit kauerte ich vor mich hin wimmernd auf dem Boden. Nachdem ich die Stimme meines Vaters hörte, wie er meinen Namen rief, zuckte ich stark zusammen. "WAS IST..?", rief ich brüchig hinunter, in der Versuchung, mir nichts von meinem Zusammenbruch anmerken zu lassen.
"KOMM HER.", ohne ihm zu antworten stand ich mühselig auf, zog einen Pullover über mein T-Shirt an und ging hinunter.

Im Esszimmer angekommen sah ihn meinen Vater neben einer mir fremden Frau sitzen. Mein Blick wandte sich sofort dem Boden zu. Er sagte etwas für mich unverständliches zu der dunkelblonden Frau, dann wurde er lauter, sodass ich ihn verstand. "Das ist Saya Ageda. Sie ist meine neue Freundin sowie Verlobte."

...was?

Ich konnte nicht glauben, dass er das ernst meinte. Durch die ständigen indirekten Erinnerungen seitens meines Vaters wurde ich immer wieder aufs Neue unsanft auf die Trennung meiner Eltern hingewiesen, sodass ich nie so richtig die Möglichkeit hatte es in Ruhe zu verarbeiten. "Ah...", gab ich nur leise von mir, bevor ich so schnell ich konnte zurück in mein Zimmer lief. Dort nahm ich alle Sachen, die mir irgendwie wichtig erschienen, und rannte nach draußen. Ich wusste nicht für wie lange, aber ich musste von Zuhause weg.

Plötzlich brach ich mitten in Tokyo auf dem Boden zusammen, nachdem ich etwas länger gelaufen war. Ich vernahm einzig mein Schluchzen und Wimmern kombiniert mit der salzigen Flüssigkeit, die über mein Gesicht rann. Und den Regen. Das laute, für mich so leise, unbedeutende Geräusch der vielen Regentropfen, die in regelmäßigen Abständen auf die schmale Überdachung über mir prasselten.

Was soll ich jetzt machen?

Es gab niemanden zu dem ich hätte gehen können. Normalerweise hätte ich eventuell Ren gefragt, doch das ging nicht, da sein Vater, aufgrund der Tatsache, dass wir bis Dienstag frei hatten, beschloss dort hin wegzufahren, wo sie früher gelebt hatten.

Wenn etwas sei solle ich ihm schreiben, sagte er. So nahm ich mein Handy aus meiner Jackentasche und suchte trotz den über 2.500 ungelesenen Nachrichten nach dem Kontakt von Ren.

|Ich kann nicht mehr, es tut mir leid|
Nachricht zugestellt: 14:28
Gelesen: -

|Ich liebe dich, Ren|
Nachricht zugestellt: 14:28
Gelesen: -

Ich seufzte leise. Nein. Nach anfänglichem Zögern tippte ich auf meinem Handy herum.

|Du hast diese Nachricht gelöscht|

|Ich liebe dich, Ren|
Nachricht zugestellt: 14:28
Gelesen: 14:30

Er fing an zu schreiben, woraufhin ich schnell offline ging und mein Handy ausschaltete. Der Vibrationston ertönte. Zitternd legte ich mein Handy zurück in meine Jackentasche. Ich fing an nach etwas zu suchen, erneut in der Hoffnung, in wenigen Minuten an Verblutungen sterben zu können. Ich bin so schwach.

Mehrere Schnitte. Meine Sicht verschwamm. Der graue Himmel und die Regentropfen, die auf mein Gesicht tropften und sich so mit meinen Tränen vermischten, nachdem ich nach hinten und somit weg von der Überdachung fiel, waren das Letzte, das ich sah, bevor ich nur noch schwarz erblickte.

Endlich.

Devils Promise | Assassination Classroom FFWhere stories live. Discover now