Kapitel 2

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Nachdem ich zweimal fast in den falschen Bus gestiegen wäre, saß ich endlich in dem Bus, der mich auf direktem Wege zu meinem ehemaligen Elternhaus bringen würde, in dem meine Schwester mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern lebte. Vor fünf Jahren waren sie gestorben, unsere Eltern. Die alte Gastherme hatte ein Leck und so waren die beiden im Schlaf erstickt. Seitdem war das Haus, das wir beide zu je 50% geerbt hatten, grundsaniert und auf den neuesten Stand der Technik gebracht worden, um solch ein Unglück nicht noch einmal geschehen zu lassen. Ich hatte meinen Lebensmittelpunkt damals schon lange nach Oldenburg verlagert und keinerlei Interesse daran, das Haus zu halten, daher hatte ich mir meinen Anteil des Erbes von meiner Schwester auszahlen und sie damit machen lassen, was sie wollte. Seitdem schaute ich meist nur zu den Feiertagen vorbei, gelegentlich mal ein Wochenende. So hundertprozentig hatte ich mich leider nämlich nie mit meiner kleinen Schwester und ihrer heilen Familie verstanden. Ich war jetzt 34 Jahre alt und hatte weiß Gott noch einiges im Leben vor. Eine Familie wünschte ich mir irgendwann einmal schon, nur halt noch nicht jetzt. Vor allem keine wie ihre.

Meine 31-jährige Schwester Thea hatte sich mit Bernd einen Immobilienhai als Lover an Land gezogen. Ich fand in Gesprächen nie auch nur einen Ansatzpunkt von Mitgefühl in seiner Stimme. Außer seinen Kindern gegenüber. Diese waren echte kleine Rotzgören. Tom, 4, und Lisann, 3, hatten von ihren Eltern scheinbar noch nie ein Wort der Kritik oder Erziehung genossen - denn Benehmen kannten sie nicht. Das hatte übrigens nicht nur ich, sondern auch meine langjährige Partnerin Carolin gedacht, weshalb wir möglichst selten hier vorbeischauten. Jetzt war Carolin weg. Sie hatte nach all den Jahren nicht einmal den Mut gehabt, mit mir zu sprechen. Stattdessen war sie ohne ein Wort mit sämtlichen Sachen aus unserer gemeinsamen Wohnung verschwunden. Hinterlassen hatte sie mir einen Brief, der sich las wie von einem Anwalt getippt: 'Wegen unüberbrückbarer Differenzen' wolle sie sich von mir trennen. Ich solle ihr den Papierkram bezüglich unserer gemeinsam getätigten Investitionen zukommen lassen, wenn ich diese soweit abgearbeitet hätte. Tagelang zog ich in Trauer von Bar zu Bar, bis ich irgendwann beschloss, dass die Damenwelt mich in alter Blüte wiederbekommen sollte. Der Entschluss in meine Elternstadt Köln zu ziehen folgte sehr bald an diese Entscheidung, denn Carolin und ich hatten in den letzten Jahren einen gemeinsamen Freundeskreis aufgebaut, der es mir jetzt nicht ganz leicht machte. Nur weg aus Oldenburg!

Nach einer halben Stunde stand ich vor Theas Haustür und klingelte. Sie öffnete, betont freundlich die Tür und brüllte Bernd zu, er solle mir mit den Koffern helfen. Dann sprang sie mir um den Hals. Die Kinder waren scheinbar nicht zuhause, denn sicherlich hätte ich sie sonst gehört. Ich war verblüfft, als Bernd mich zur Begrüßung herzlich drückte. "Glückwunsch, Luc, dass du endlich diese Frau hast ziehen lassen! Keine Sorge, du kannst hier solange wohnen, wie du willst, lass dir bei der Wohnungssuche also ruhig Zeit! Und sag Bescheid bei Problemen, ich habe ja ein paar Kontakte." Kurz später, ich hatte mein Gepäck im Gästezimmer so gut wie möglich ausgepackt, trat ich ins Wohnzimmer und sah zwei ruhige Kinder selig malen. Huch, was hatten die denn mit denen gemacht? Gehirnwäsche käme bei dieser Radikaländerung ja durchaus in Frage... Aber diese Erfindungsreichtum hätte ich Thea und Bernd eigentlich nicht zugetraut. Hatten sie den Kids ADHS-Medikamente verschreiben lassen? Misstrauisch musterte ich die Familienidylle, nach irgendwelchen Beruhigungspillen würde ich wohl vorsichtshalber doch einmal Ausschau halten die nächsten Tage...

Der nun folgende Abend, wir teilten uns zwei Flaschen Rotwein, war tatsächlich sehr nett. Scheinbar waren die beiden mit meiner Frauenwahl so unglücklich gewesen, dass sie erst jetzt wieder normal mit mir umgehen konnten... Sachen gibt's! Am nächsten Morgen spazierte ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder frei und ungebunden durch Köln und schaute mich nach Veränderungen im Stadtbild um. Klar, die Innenstadt veränderte sich in ihrer Ladenstruktur ständig und die ein oder andere Baustelle war wohl auch von einem zum nächsten Ort gewandert, jedoch stellte ich froh fest, dass ich die Stadt, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, noch immer wiedererkannte. Ich beschloss dann, mir auch die hiesige Kneipenkultur noch einmal ausführlich zu Gemüte zu führen, hatte ich doch viele schlechte Eindrücke von der Stadt im Erwachsenenalter im Kopf. Ich startete den Abend mit einem Kölsch, das im Gegensatz zu unserem norddeutschen, vernünftigen Pils definitiv nicht überzeugte. Ich schüttelte mich vor Ekel und stieg im Dialog mit einem Kölner Lebemann auf andere Getränke um. Es sollte ein langer Abend werden.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit dickem Schädel in meinem Bett. Jede kleinste Bewegung brachte mich zum Stöhnen. Ach herrje, wie war ich denn eigentlich überhaupt nach Hause gekommen. "Na, wieder wach?", sagte eine Stimme von der Tür aus. Thea. "Du kannst dann gleich mal das Bad von deiner Sauerei befreien. Kopfschmerzen als Ausrede lasse ich nicht gelten. Wer sich abschießt, muss auch die Konsequenzen tragen!" "Ja, Mama", murrte ich zurück und erhob mich stöhnend. Thea: "Komm, je schneller du bist, desto eher erwartet dich eine Kopfschmerztablette in der Küche." "Ähm, Thea, ich bin Arzt. Wenn du mir keine gibst, dann bin ich durchaus in der Lage, mir selbst welche zu besorgen... Außerdem müsste ich irgendwo da drin noch eine Tüte mit Mittelchen haben", meinte ich mit Blick auf meinen Koffer. Thea: "Also falls du deinen Verbandskasten meinst, der liegt im Bad." Sofort sprang ich wütend auf: "Du warst an meinen Sachen???" Thea: "Nein, DU warst an deinen Sachen. Und jetzt auf ins Bad!"

In besagtem Bad erwartete mich ein Bild des Schreckens. Das Waschbecken war blutverschmiert, auf der Ablage lag eine blutige Damenbinde. Am schlimmsten jedoch würde der Blick in den Spiegel sein: Etwa einen Zentimeter über meiner rechten Augenbraue hatte ich einen großen Cut, der mit sieben sauberen Stichen genäht war. "Thea, war ich im Krankenhaus? Wer hat das genäht??" "Du selbst", meint Thea mit angepisster Stimme. Davon zeugen, obwohl ich es kaum glauben mag, allerdings die Dinge aus einem Nahtset, die rund um das Waschbecken liegen, wirklich. Ich versuchte mich an vergangene Nacht zu erinnern, konnte es jedoch nicht. "Weißt du, was gestern los war?", fragte ich meine Schwester, als sich diese Bemühungen als erfolglos erwiesen. Sie schüttelte nur den Kopf und meinte, sie hätte mich vor der Haustür liegend gefunden, nachdem ich gerade in ihre Hortensien erbrochen hatte. Eine Damenbinde auf die blutende Wunde gedrückt. Dann sei ich plötzlich aufgestanden und direkt durch die offene Haustür in mein Zimmer und anschließend mit meinem Erste-Hilfe-Koffer ins Bad gestiefelt. Wo ich dann mit Nähten an der Stirn wieder rausgekommen sei und direkt ins Bett getaumelt. Bis sie mich gerade geweckt habe.

Schließlich fragte Thea: "Wann musst du eigentlich auf der Wache sein?" Oh Mist, fast vergessen! Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich so gerade eben noch pünktlich kommen würde, sollte ich mich jetzt beeilen. Na hoffentlich würde keiner nach der Ursache für diese Wunde fragen... Mann, ausgerechnet am ersten Arbeitstag!! Was sollten denn die Kollegen denken...

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Als Dank für die vielen lieben Kommentare schon jetzt ein brandneues Kapitel ;)

ASDS - Et hätt noch immer jot jejange - Neuer Job in KölnWhere stories live. Discover now