Kapitel 85

409 23 5
                                    

Nein, es war definitiv nicht normal: Disse saß alleine am Fenster gelehnt, hatte weder die Augen zu, noch hatte er Kopfhörer in den Ohren – er saß einfach nur da. Sein Handy in der Hand, sein Blick starr. „Irgendwas stimmt nicht", bestätigte ich Steffens Vermutungen. „Ich geh mal zu ihm hin". Ich nickte und sah zu, wie er sich einen Weg zu unserem Mitspieler bahnte, wurde dann aber wieder erinnert, dass ich am Zug wäre. Ich würfelte eine sechs, konnte einen Stein aufs Feld bringen und hatte dann noch eine drei. Nichts Besonderes. Harald konnte das Spiel noch immer nicht beenden und Gisli war mit seinem letzten blauen Stein wieder auf Kurs.

Steffen war ziemlich schnell wieder zurück. Neugierig fragte ich, was denn los sei. „Ich erzähl's dir später daheim, ist eine längere Geschichte". Jetzt machte er mir wirklich Angst, denn Steffen wirkte selbst mittlerweile alles andere als glücklich und Disse saß unverändert still auf seinem Platz. Ich bekam noch mit, wie Alfred ihn irgendwann zu sich nach vorne holte und die beiden nochmal ein ziemlich langes Gespräch führten.

Was war da denn los?

Spät in der Nacht waren wir erst wieder in Kiel. Steffen und Lukas fuhren wieder bei mir mit und diesmal musste ich mich auch nicht vor einer lästigen Fragerei fürchten, denn Lukas wusste ja nun Bescheid. „Gute Nacht, ihr zwei", verabschiedete er sich vor seiner Wohnung, holte seine Tasche aus dem Kofferraum und ich fuhr mit Steffen in meine Wohnung. Natürlich wollte ich sofort wissen, was los war im Bus mit Disse. Steffen seufzte, dann meinte er: „Er hat nur fünf Minuten gespielt am Wochenende und das nicht mal sonderlich gut. Schon gestern hatte er ein Gespräch mit Alfred und bevor wir losgefahren sind wohl nochmal. Alfred hat ihm verdeutlicht, dass er mehr Leistung bringen muss, wenn er beim THW Kiel spielen will und er seine lange Verletzung auch nicht mehr dauerhaft zum Vorwand nehmen dürfe. Klar fehlt es ihm an Praxiserfahrung, aber Alfred meinte wohl, dass er sich im Training auch nicht so bemühen würde, wie er es sich vorstellt und er früher, vor seiner Verletzung, auch wesentlich engagierter trainiert hatte". „Und was bedeutet das jetzt?", hakte ich gleich nach. Ich war wirklich etwas geschockt. „Alfred hat ihm zwei Optionen gelassen: Erstens, er hängt sich voll und ganz rein, ohne Garantie, dass er so viel spielen wird, da immer noch Lukas und du vor ihm stehen und die zweite Option wäre ein Vereinswechsel und Disse ist jetzt komplett niedergeschlagen und unschlüssig". „Jetzt tut er mir schon irgendwie leid", äußerte ich mich. „Glaub mir, mir tut er auch leid, auch wenn er die größte Nervensäge der Welt ist – ohne ihn fehlt was in Kiel". Ich nickte zustimmend.

Ohne weitere Worte stiegen wir aus meinem Auto, nahmen ebenfalls unsere Taschen aus dem Kofferraum heraus und ich schloss meine Wohnung auf. „Schön wieder im eigenen Bett schlafen zu können", lachte ich und stellte meine Tasche erstmal im Flur ab. Wir machten uns schnell noch im Bad fertig, zogen uns um und lagen wenige Minuten später eng umschlungen in meinem Bett. Einen Gute-Nacht-Kuss bekam Steffen allerdings noch von mir, doch wenige Minuten später waren wir auch schon eingeschlafen.

Schon einen Tag später wartete im Training auf uns eine böse Überraschung, die sich bereits in Form von Dener Jaanimaa, der plötzlich in der Halle auftauchte, ankündigen ließ. „Dener?", fragte ich verwundert und schaute unseren Ex-Kieler und momentan-Melsunger verwirrt an. „Moin ihr", grinste er verpeilt wie immer. Auch Alfred war über seine Anwesenheit sehr verwundert. Im Schlepptau hatte unser Coach Christian Dissinger – letztgenannter ohne Trainingstasche und Trainingsklamotten, dafür mit fetten Augenringen. „Hat der überhaupt geschlafen?", fragte ich Steffen in einem Flüsterton. „So scheiße wie der aussieht, nicht – ich ahne gerade das Schlimmste". „Ich auch", gab ich zu.

Währenddessen fiel Dener Disse um den Hals. „Brudiiiii, wir haben uns nie gesehen". „Du meinst schon ewig nicht mehr", lachte Disse, so gut es sein Aussehen eben zuließ. „Nie ewig mehr, Bratan". Bei ihm schien jede weitere Deutschstunde für den Arsch zu sein. Ihm war echt nicht mehr zu helfen und er war so ein richtiger Disse-Verschnitt.

„Jungs, kommt ihr mal bitte alle zusammen, Disse muss euch was verkündigen, wir fangen ein paar Minuten später dann mit dem Training an", bat uns Alfred um seine Aufmerksamkeit. Jeder kam her, stellte sich in einem Halbkreis um unseren Trainer herum auf, nur zwei schien das nicht zu stören: Doppel D lag mitten in der Halle auf dem Boden, Arm in Arm und sie rollten um ihre eigene Achse. Alfred räusperte sich nicht gerade unauffällig und irgendwann schien zumindest Disse mal Anstalten zu machen, sich von seinem besten Buddy und Seelenverwandten zu lösen. Dener schmollte zwar erst, folgte dann aber seinem früheren Mitspieler. Bevor Alfred Disse zu Wort kommen ließ wurde als erstes Dener ins Verhör genommen: „Dürfte ich wissen, wieso wir die Ehre mit dir heute haben? Habt ihr kein Training?". „Doch, doch, immer Training", stellte unser Este als erstes klar und hob zur Verdeutlichung seinen Zeigefinger in die Luft, dann fuhr er fort: „Ich aber habe gesagt: Trainer, ich bin tot von Wochenende, ich kann nicht Training kommen, dann er hat gesagt: Gut Dener, du dann nicht kommst, du kommst Dienstag wieder, ich gesagt: Nein". Alfred unterbrach seinen unverständlichen und unnötigen Redeschwall – vielleicht auch besser so. Marko, mit dem er früher ebenfalls durch dick und dünn ging in seinen Kieler Zeiten, fragte dann: „Und was machst du dann hier?". „Ich bin Disse hier um zu fliegen zu Skopje und Wohnung weg".

WAS?!

Mein Blick schellte zu Steffen herüber, er schaute mich mit dem gleich entsetzten Gesichtsausdruck an: „Disse wechselt nach Skopje?!". An den Reaktionen der anderen erkannte ich, dass diese noch nicht so wirklich einen Plan hatten, was hier grade vor sich ging und Deners Worte zur Aufklärung auch keinen großen Teil beitragen konnte. Lediglich Rune suchte unseren Blick auf – er wusste es. Das sah man ihm an und auch er wirkte alles andere als glücklich.

„Ja, also wegen dem bin ich auch hier", meldete sich nun auch Großmaul, der heute ein Kleinmaul war, zu Wort, „Ich werde zu Vardar Skopje wechseln mit sofortiger Wirkung. Es gab viele Gründe für meinen Wechsel, aber ganz besonders natürlich die geringere Belastung und die Spielpraxis, die mir dort zugutekommen wird. Ich finde es trotzdem total schade, von Kiel wegzugehen, euch zurückzulassen und mir ist die Entscheidung wirklich nicht einfach gefallen, aber ich glaube wirklich, dass es das beste für mich ist. Ja und Dener hat mir angeboten, mir beim Umzug zu helfen, deshalb ist er heute hier. Ihr seid die geilste Mannschaft, die es gibt und ich werde euch nie vergessen und ich werde euch auch ganz bald besuchen kommen – darauf könnt ihr euch verlassen".

Rune war der erste, der Disse um den Hals fiel: „Ich werde dich so vermissen, meld dich bitte so oft es geht, du fehlst mir jetzt schon". Auch Steffen und ich gingen nun auf unseren Rückraumspieler zu, wünschten ihm alles Gute für seine Zukunft, doch eines wollte er noch loswerden, darauf bestand er: „Also, in einer Schwulenbeziehung ist es ja immer so, der eine ist der Mann, der andere die Frau und ich habe euch ja jetzt schon eine ganze Weile beobachtet und bin nun auch zu einem Schluss gekommen: Niko, du bist der Mann, du schaust Steffen die ganze Zeit auf den Arsch, du sitzt zu 90% am Steuer, du kriegst einen Steifen, wenn du Steffen auch nur anschaust und du Steffen, du bist die Frau. Eine sehr selbstbewusste Frau, die auch gerne mal vorangeht, du kannst Nikos Schwanz nicht widerstehen und bei dir muss alles seine Ordnung haben – seien es auch nur deine tausend Caps, die keinen Millimeter auf deinem Regal bewegt werden dürfen. Das wollte ich euch zwei noch auf den Weg mitgeben. Vielleicht seid ihr ja verheiratet, wenn ich euch das nächste Mal wiedersehe. Hab euch ganz doll lieb". Er drückte jedem von uns noch einen Kuss auf die Wange, dann verabschiedete er sich noch von den anderen.

„Vielleicht werde ich ihn doch nicht so vermissen", raunte ich Steffen zu, als wir wieder alleine standen. „Vielleicht hast du doch recht", grinste er und boxte mir leicht gegen die Schulter. Auch Dener verabschiedete sich nochmal mit Worten, die kein Mensch verstand und etwas später waren dann beide aus der Halle verschwunden und das erste Mal an diesem Tag kehrte etwas Ruhe ein.

Nach dem Training ließen sich Steffen und ich besonders viel Zeit, unter anderem auch deshalb, weil wir zum Mittagessen ins Vapiano wollten und Alfred bereits um elf das Training beendet hatte. Lukas und Gisli wollten ebenfalls mitkommen, doch beide wollten erst kurz heim und dann fuhren sie nochmal her und so waren Steffen und ich auch ziemlich schnell die letzten beiden, die noch in der Kabine waren. Er hatte seine Tasche auf der anderen Seite, setzte sich dann aber zu mir herüber, um das Tape von seinen Fingern zu lösen. Derweil breitete ich meine Sachen auf der Bank aus und versuchte das Harz von meinen Händen zu bekommen. Als Steffen seinen Tape-Knäuel in den Müll geschmissen hatte stellte er sich vor mich und keine Sekunde später vereinigten wir unsere Lippen miteinander. Ich fuhr mit der Hand unter sein verschwitztes Shirt, was ihn kurz aufstöhnen ließ. Ich streifte es ihm auch wenig später über den Kopf, was er bei mir gleichtat und kurz drauf hatten wir beide nichts mehr an und torkelten, ohne unseren Kuss zu unterbrechen, rückwärts in die Duschen. 

Geheime LiebeWhere stories live. Discover now