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Kapitel 44

Es war schwer, nicht weiter über die vergangene Nach nachzudenken und dass es ihm gelang, lag einzig und allein daran, dass er wusste um was es hier ging. Ein Mörder zu finden, Vermisste identifizieren und den Familien endlich Gewissheit bringen. Dennoch erwischte er sich immer wieder dabei, wie er versuchte Selne zuberühren. Flüchtige Momente in denen er ihr sagte, was er ihr nicht sagen konnte. Nicht jetzt, obwohl er sehr wohl Selenes Blicke von Zeit zu Zeit auf sich spürte und sie sich sicherlich ebenso fragte, was das nun zwischen ihnen war. Sie haben miteinander geschlafen, nicht mehr und nicht weniger. Aber es war für ihn mehr gewesen als nur ein One-Night-Stand, doch sah sie das genauso?

Sie war jung und hatte gerade erst angefangen sich sexuell auszuleben. Er war ihr Erster gewesen, das zu wissen war seltsam. Einerseits befriedigte es einen ziemlich egoistischen Teil in ihm und schürte gleichzeitig die Sorge, dass sie weitere Erfahrungen würde sammeln wollen.

Er ballte die Fäuste und drückte diese irrationale Eifersucht zurück. Es ging nicht, er musste sich konzentrieren. Sie hatten keine Zeit um persönliches zu klären.

Anstatt sich im Sheriff-Büro zu melden, das gerade einen guten Sheriff zu betrauern hatte, machte Ethan mit Selene einen Abstecher ins Krankenhaus. In den Leichenkeller, der alles andere als darauf ausgelegt war so viele Tote aufzunehmen, hatte man die ersten Leichen gebracht, die man während der Nacht vom Baum genommen hatte. In allgemeinen war ganz NewHollow vollkommen überfordert mit der gesamten Situation. Es gab hier lediglich eine kleine Gerichtsmedizin und irgendwann in der Nacht hatte Michael Hirsch, neuer Sheriff in NewHollow, ganz offiziell den Fall an das FBI abgegeben. Als Vertretung hatte er das nicht gekonnt und das FBI über den Kopf der zuständigen Behörden hinweg entschieden. Nun gab es einen offiziellen Hilfeantrag an die Regierungsgewalt, was ihnen im Umgang mit der Presse helfen würde sobald sie davon Wind bekamen. Nichts sah schlimmer aus als eine Regierungsbehörde die in Kleinstätten die Kontrolle übernahm. Allerdings konnte Ethan nur hoffen, dass das Presseembargo noch eine Weile funktionieren würde.
Ethan steuerte den Wagen durch die engen Straßen und hielt dann auf den kleinen Parkplatz vor dem winzigen Gebäude, dass das Einzige gewesen war welches funktionierenden Kühlzellen für die Toten aufwies. Seit einigen Stunden befand sich dort Lars O'Brien, ein alter Gerichtsmediziner, der die Vorhut der Kriminaltechnik des FBI darstellte. Er und sein Team reisen seit zwanzig Jahren durch die USA um das Ausmaß eines Falles aus Sicht der Spurensicherung und der Analyse zu bewerten und zu entscheiden, ob man es an die örtlichen Behörden abgeben kann oder das FBI selbst die Aufgabe übernahm. In diesen Fall kannte Ethan die Antwort bereits: O'Brien hatte nach Verstärkung aus Quantino geschickt, es war also schlimm. So schlimm, dass die Gerichtsmediziner hier es wohl nicht fertigbringen würden die Spuren zu sichern, zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Selene fragte nicht was sie hier wollten, als sie nach ihm aus dem Wagen stieg und auf Ethan wartete, bis sie dicht neben ihm ging und er berührte kurz ihre Hand bevor er einfach in die Notaufnahme spazierte diese um diese Uhrzeit Menschenleer war. Nichts Ungewöhnliches für so eine kleine Stadt in der eigentlich nie großartig etwas passierte.
Es dauerte nur Sekunden bevor die Ärzte ihn ansprachen und ihm den Weg in das untere Stockwerk zeigten. Dort angekommen bemerkte er wie Selene zögerte die letzte Stufe in den Keller zu nehmen, denn bereits hier stapelten sich die Leichen.
Er hatte ihr den Anblick ersparen wollen, aber das ging nicht. Wenn sie konnte, was sie behauptete dann war ihre Gabe Gold wert und könnte sie letztendlich zum Mörder führen. Und obwohl sich alles in ihm weigerte, dass auch nur in Betracht zu ziehen – glaubte er ihr auch wenn er lieber nicht darüber nachdenken wollte wie das überhaupt möglich war. Das war etwas, was er später klären wollte, aber er würde Fragen stellen – sobald er wusste, was er Fragen wollte. Es war alleine sein Pflichtgefühl das ihn davon abhielt sie in eine Ecke zu ziehen und Antworten zu fordern oder sie zu küssen...
Verdammt.
Als er zu ihr blickte verschwand der Agent in ihm für eine kurze Zeit und musste dem Mann weichen, der sich fühlte wie ein verliebter Teenager der einfach nicht genug von seiner ersten Freundin bekommen konnte. Der Wunsch, seine Hand in ihr Haar zu graben und ihren Duft in sich einzusaugen, war überwältigend. Es war kaum zu leugnen wie restlos er ihr verfallen war. Sie hatte keine Ahnung was alleine ihr Anblick in ihm auslöste.
„Selene? Willst du oben bleiben?", fragte Ethan fürsorglich, doch ihr Blick verengte sich und sie sah ihm fest in die Augen.
„Wag es ja nicht den Beschützer zu spielen!", erwiderte sie feurig und Ethan verkniff sich ein Grinsen, das hätte sie sowieso nur wütend gemacht und da seine kleine Furie schnell in die Luft ging, schluckte er sich jedenweiteren Kommentar herunter wie niedlich sie aussah, wenn sie wütend wurde.
„Tu ich nicht. Wenn du nicht oben bleiben willst reiß dich zusammen und komm mit!" meinte er liebevoll, obwohl seine Worte harsch klangen. Es bewirkte das, was es bewirken sollte. Selenes Ehrgeiz war geweckt und sie sah ihm trotzig entgegen während sie endlich den Gang mit den aufgereihten Leichen betrat in dem der süßliche Geruch der Verwesung herrschte, obwohl die Lüftung und die Temperaturen hier unten versuchten dagegen zu steuern. Er sah sie ganz genau an als sie das ebenfalls bemerkte und rieb ihr einmal über den Arm, um ihr mit dem Geruch zu helfen. Er selbst war daran gewöhnt, aber Selene hatte damit zu kämpfen sich nicht zu übergeben.
„Danke, geht schon", flüsterte sie verkrampft und war plötzlich gar nicht mehr so bissig.
„Sturkopf", murmelte er und ging vor ihr her und sah nur noch aus dem Augenwinkel ihr zynisches Grinsen. Eines stand fest: Mit Selene und ihrer mal süßen und mal zickigen Art würde es nie langweilig werden. Er hätte sich gerne weiter ihren Gefühlswechseln gewidmet, doch da trat bereits O'Brien auf sie zu und begann zu erzählen bevor Ethan Fragen stellen konnte.
„Es sind siebzehn Leichen plus die Familie, sofern wir das bis jetzt sagen können. Wir sind noch dabei sie zu sortieren.", sagte er und Ethan musste einmal kurz Luft holen während Selene eher schockiert schien. Siebzehn sind nicht gerade wenig. Doch Selene schien etwas anderes aufzustoßen.
„Sortieren?", fragte sie mit brüchiger Stimme. O'Brien sah kurz zu seiner rothaarigen Schönheit hinüber und warf Ethan dann einen fragenden Blick zu. Er wusste nicht viel von Selenes Beteiligung an dem Fall. Ethan nickte, was der Pathologe als Erlaubnis nahm ihr antworten zu dürfen
„Die Körper waren, bevor man sie aufgehängt hat, vergraben gewesen und befinden sich in sehr unterschiedlichen Verfallphasen. Einige konnten nur noch teilweise an den Baum gehängt werden und sind dennoch irgendwann abgefallen, und zwar auf die Körperreste anderer Opfer. Es dauert, bis wir das im Detail alles zuordnen können." Eine bizarre Vorstellung, die Selene davon abhielt weiter Fragen zu stellen. Nicht aber Ethan, er konnte sich diese Feinfühligkeit nicht erlauben
„Sie hingen dort also nicht ganze Zeit?", fragte Ethan und der Mann schüttelte den Kopf.
„Nein, ich habe hier Leichen die sind einige Monate alt. Wenn ich schätzen müsste würde ich sagen sie hingen seit circa zwei Wochen am Baum." Also hat irgendjemand die Toten gesammelt und versteckt bevor er dieses grausige Schauspiel inszenierte. Vermutlich in der Nähe. Ungefähr zu dem Zeitpunkt als der Junge verschwand.
Das machte in stutzig. Der Mörder hatte nicht gewollte, dass man sie fand bevor er es wollte. War Karl nur zu falschen Zeit am falschen Ort? Hatte er den Mörder beim Erschaffen seines Henkersbaumes gestört oder war derJunge bewusst verschleppt worden um den Beginn seines Theaterstückes zu demonstrieren und um sie zu dem Baum zu locken? Unwahrscheinlich, ohne diese Pflanzensamen hätten sie diesen Ort vielleicht nie gefunden. Der Wald war riesig, es hätte Monate dauern können bis sie auf die Ruine stießen. Hätte er gewollt, dass man diesen Baum fand, hätte er die Spuren offensichtlicher gestaltet.
Was war, wenn Karl ihn tatsächlich gestört hatte und der Junge deshalb sterben musste? Als der Junge verschwand fing man an den Wald zu durchkämmen. Hatte er die Leiche deswegen zu Selene gebracht? Um die Suche zu beenden und ungestört weiter machen zu können? Warum dann aber die Augen und den Brief, der das FBI auf den Schirm holte? Er wusste doch, dass Selene ihnen als Alice half. Er hatte ihr eine verdammte Karte geschrieben.
>>Folge mir ins Wunderland.<< hatte da drauf gestanden. Vielleicht waren sie doch hergelockt worden. Oder eben nur sie. Denn wenn er ehrlich war: wer außer Selene hätte diese Spur überhaupt finden können? Sie war seit Jahren nicht mehr dort gewesen, hatte sie gesagt. Aber der Mörder wusste, dass ihre Pflanzen von diesen alten Gärten dort stammten. Es war eine Spur, die so geschickt versteckt wurde, dass nur Selene sie gesehen hatte. Wie lange beobachtete er sie schon und was wollte er?
Egal was es war: es konnte nichts Gutes sein. 

Das Alice Projekt - An Oracale-Mystery-Thriller Bd1Where stories live. Discover now