3rd flashback

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Man sah feinen Stoff, schicke Anzüge, lange und kurze Kleider und sehr viele aufgeregte Personen, wenn man einen Blick hinter die für den Festtag aufwendig dekorierte Bühne warf.

Ein neuer Jahrgang wartete darauf, endlich die Bestimmung seines Lebens zu erfahren.

Unter ihnen auch ein junger Mann, dessen sonst so verwuschelten Haare zu diesem feierlichen Anlass mit Gel gezähmt worden waren, während er in einem feinen, schwarzen Anzug mit einer etwas helleren Krawatte steckte, an welchem er unablässig nervös herumzupfte.

Mittlerweile hatte er sich die Innenseite seiner Wange aufgebissen und konnte den metallischen Geschmack seines eigenen Blutes auf der Zunge spüren, doch das alles bemerkte er kaum, da er viel zu aufgeregt war.

Zum wiederholten Mal lehnte er sich auf seinem Stuhl zur Seite und versuchte, hinaus auf die Bühne und damit auch ins Publikum spähen zu können, um seine Familie zu erblicken. Seine kleine Schwester Georgia hatte er schon ausfindig gemacht, doch er vermutete, dass seine Eltern sich so neben ihr befanden, dass er sie von seinem Blickwinkel aus nicht mehr sehen konnte.

Ein heftiger Stoß in die Rippen ließ ihn zusammenzucken.

Der Junge neben ihm, ein unangenehm perfekter Typ mit Locken und einem Lächeln, das jedes Mädchen zum Seufzen und jeden Jungen zum genervten Augenverdrehen brachte, funkelte ihn wütend an. Es war Rich Walker, ein Junge, den er noch nie sonderlich gemocht hatte.

„Verhalte dich einmal in deinem Leben angemessen, Tomlinson", knurrte er.

Angesprochener zog sich zurück und starrte auf seine Hände.

Hier lief etwas absolut falsch, das wusste er, denn er wusste, dass er anders war. Keinem anderen schienen die Wachposten aufgefallen zu sein, die sich vor jedem Ein- und Ausgang befanden und auch keinem anderen die Kameras, die in den Ecken des Raumes hingen.

War er der Einzige, der spürte, dass er nicht dazugehörte?

„Tiana Allen", wurde da eine Person aufgerufen, die Louis nur flüchtig vom Sehen her kannte und mit der er nie ein Wort gewechselt hatte.

Mit einem Applaus ging das Mädchen nun stolz auf die Bühne und erfuhr kurz darauf, dass sie Polizistin werden würde.

In dieser Zeit sah Louis die Stuhlreihe entlang.

Hinter Tiana kamen Philipp Ashton und Evangelina Clement, welche ebenfalls aufgerufen, bejubelt und einem Beruf zugeteilt wurden.

All das ging wie im Flug an ihm vorbei, er nahm es nicht einmal wirklich war, da er selbst so tief darin versunken war, sich von seiner Nervosität abzulenken.

Als er schließlich doch einmal aufsah, erkannte er, dass er beobachtet wurde. Seine Schwester Georgia hatte einen Platz gefunden, von welchem aus sie gerade weit genug hinter die Bühne spähen konnte, um ihn zu erblicken. Sie winkte ihm zu und er hob eine Hand, um ihr zu zeigen, dass er sie ebenfalls entdeckt hatte.

Den genervten Blick, den er dafür von Rich kassierte, ignorierte er stur.

„Hallo, Georgie", murmelte er leise, obwohl er sich sicher war, dass sie ihn auf diese Entfernung nicht hören konnte.

Trotzdem beruhigte es ihn für einen Moment, das vertraute Gesicht, das dem seinen so ähnlich war, zu sehen.

Dann jedoch wurde er urplötzlich unglaublich traurig. Aus irgendeinem bestimmten Grund hatte er schon jetzt die Vorahnung, schon viel zu bald Abschied von seiner kleinen Schwester und seinen Eltern nehmen zu müssen.

Mittlerweile war das Aufrufen schon bis zum Buchstaben 'R' fortgeschritten.

Als Louis erneut die Reihe entlang sah, blieb sein Blick dieses Mal jedoch auf Zac Cooper und Danielle Harris hängen, die mit hängenden Köpfen noch immer auf ihren Stühlen saßen. Sie waren nicht aufgerufen worden. Kein Wunder, denn Zac verbrachte seine Zeit lieber mit der Verfassung von gesellschaftskritischen Texten, als mit lernen, während Danielle schon einige Male Panikattacken in der Schule bekommen hatte.

Auch sie passten nicht in das System. Sie waren genau wie er und trotzdem waren alle drei allein.

„Richard Walker", rief die Moderatorin nun Louis' Sitznachbarn auf, welcher sich mit einem triumphierenden Lächeln erhob und zur Bühne schritt.

Wie gebannt starrte Louis auf den Platz neben sich. Er wusste, was gerade passiert war und hatte es sich trotzdem auf irgendeine Weise spektakulärer vorgestellt: Er war nicht aufgerufen worden.

Aber nein, die verdammten zwei Worte, sein Name, die unausgesprochen verweilten, waren zwar der letzte Nagel in seinem Sarg, doch trotzdem sehr unauffällig.

Natürlich waren sie das, wie ihm jetzt aufging. Er war ein Fehler, und niemand feierte einen Fehler. Man verschwieg ihn wohl eher, um ihn nachher still und leise beseitigen zu können.

Als er aufblickte, sah er direkt in Georgias Augen, die ihn vor Schock geweitet durchbohrten. Sie war sich sehr wohl bewusst, was das für ihren Bruder bedeutete, sie hatte es vermutlich sogar geahnt.

Er war eine Enttäuschung für seine Familie, das wusste er, aber er konnte nichts dagegen tun.

Plötzlich legten sich zwei Hände auf seine Schultern. Ein breiter Mann mit grimmigem Gesicht zog ihn von seinem Stuhl hoch.

Diese Berührung weckte ihn aus seinem tranceähnlichen Zustand auf und eine Welle der Panik überflutete ihn.

„Georgie!", rief er und streckte einen Arm nach ihr aus, obgleich sie viel zu weit weg war. „Georgia!" Sie schrie etwas zurück, doch der Lärm der Menge übertönte sie. „Ich liebe dich, Georgia! Ich liebe Mum und Dad! Es tut mir leid!"

Und damit wurde er aus dem Raum gezerrt, in dem er die ganze Zeit umsonst gewartet hatte.

Er wusste, dass er seine Familie nicht wiedersehen würde, er hatte es aus dem Blick des Mannes gelesen, der ihn mitgenommen hatte.

Was ihn nun erwartete, war das Leben, das Fehler, wie er einer war, verdient hatten.

Das Leben eines Rebellen.

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Where stories live. Discover now