Die süße Freiheit und ihr bitterer Beigeschmack [beta]

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Die äußeren Bezirke der Stadt zählten zu den Ärmsten und Heruntergekommensten. Die Viertel waren zu weiten Teilen verwaist und verfallen. Die Menschen die dort zu leben versuchten, waren meist Ausgestoßene, flüchtige Kriminelle und Waisenkinder, die sich zu Banden zusammenschlossen. Auch für den 14-jährigen Jungen Val war das die einzige Möglichkeit, ein einigermaßen erträgliches Leben zu führen. Er war nicht besonders lebhaft oder gesprächig. Er überließ diesen Teil am liebsten Momo, dem Anführer der Bande. Val war einer dieser Menschen, die in einer eigenen Welt zu leben schienen. Er tat zwar immer das, was ihm aufgetragen wurde und war dabei auch produktiv und folgsam. Emotional war er jedoch distanziert und meistens sehr still. Viele der anderen mochten ihn nicht besonders, weil sie nicht wussten was in ihm vorging, da er sich selten mit jemand anderem als Momo unterhielt und seine Meinung immer zurückhielt. Er war zwar immer freundlich und friedfertig, aber sein Mangel an Einfühlsamkeit und seine roboterhafte Art waren für die Anderen ein zu großes Hindernis sich ihm weiter zu nähern. Seine braunen Augen schienen immer ins Leere zu starren und immer irgendwie ein bisschen traurig. Sein Gesicht war fast immer schmutzig, seine Haare zerzaust und seine Kleidung abgetragen und löchrig. Über sich selbst wusste Val nichts weiter als seinen Namen. Für ihn war es einfach so, als wäre er in einem Traum. Er wusste nicht wie er dahin gekommen war, oder irgendetwas anders über seine Vergangenheit. Dies war einfach seine Realität, die er missmutig akzeptierte; denn er konnte es nicht ändern, so sehr er es auch wollte. Sein Alter hat Momo einfach festgelegt, als er ihn vor zwei Jahren auf dem Sportplatz einer verlassenen Schule fand. Sie freundeten sich an und Momo nahm ihn in seine Bande auf.

Von nichts außer dem Willen zu überleben getrieben, zogen Momo und seine Bande täglich durch die Straßen; bettelten, stahlen und handelten mit zweifelhaften Waren. Sie gingen dabei immer große Risiken ein, doch der Gedanke daran wieder tagelang hungern zu müssen war schlimmer als die Angst vor Tod und Folter. Heute waren sie wieder unterwegs; doch anders als sonst brachte Momo sie heute sehr weit weg von zu Hause - in einen Stadtteil, der sehr nah am Stadtzentrum war. Vor einem kleinen Gemischtwarenladen brachte Momo die Gruppe, mit der er gerade auf Streifzug war, durch ein heben seiner Hand zum Stehen. Er lugte interessiert ins Schaufenster und musterte die Auslage. Momo war wahrlich der perfekte Anführer: Groß, sehr stark und ausgesprochen charismatisch. Seine Worte waren für andere wie ein hypnotisches Feuerwerk an Enthusiasmus und Kraft. Durch seine Autorität fühlten sich alle bei ihm sicher und geborgen. Er hatte kurze, rotbraune Haare, braune Augen und einen kleinen Kinnbart, den er gut zu pflegen wusste. Val ging zu ihm und zupfte an seinem zerrissenen Ärmel.

„Ich hab Hunger und meine Füße tun mir weh.", klagte er, „wir sollten uns was zu essen beschaffen. In dem Laden gibt es nur unnützes Zeug." Momo war ein bisschen größer als Val und für gewöhnlich gut gelaunt. Doch im Moment plagten ihn eine Menge Sorgen.

„Ich weiß.", sagte er ernst und schaute zu den anderen, die ebenfalls erschöpft und hungrig waren. „Ich erkläre dir später, warum ich hier hinein will. Außerdem können wir uns von dem Geld auch bestimmt was zu Essen kaufen." Val schaute ihn skeptisch an, seufzte und ließ von ihm ab.

„Naja, übermorgen beginnt das Renaissancefest.", erwiderte Val resigniert. „Da können wir wieder etwas mehr abgreifen."

Momo lächelte und nickte. „Da hast du Recht.", und tätschelte Val den Kopf. „Deswegen machen wir heute was anderes." Plötzlich rannte er los und stürmte in den Laden, sprang über die Theke, trat dem Verkäufer ins Gesicht und schlug ihn zusammen. Die Anderen liefen ihm nach. Val blieb draußen stehen und hielt sich auf einmal den Kopf fest, er war wie benommen. Nach ein paar Minuten stürmten sie mit ihrer Beute wieder raus, die Taschen voller wertlosem Krimskrams und dem bisschen Geld, dass der Händler in der Kasse hatte. In all der Aufregung bemerkten sie nicht, dass Val zusammengekrümmt an der Wand neben dem Eingang lag und liefen ohne ihn davon. Seit kurzem hatte er diese unerträglichen Kopfschmerzen, die immer spontan auftraten und manchmal so stark wurden, dass es ihm den Boden unter den Füssen weg zu reißen schien. Val hatte dann das Gefühl, als müsse er Wissen von der Größe eines Planeten mit aller Gewalt in seinem Kopf unterbringen und es zerriss ihn dabei förmlich. Diese Anfälle waren immer stärker werdende Impulse, die ihm unendlich viele Dinge zeigten, die er nicht verstand oder irgendwie sinnvoll interpretieren konnte. Kryptische Symbole, Bilder von irrealen Welten, Stimmen in unverständlichen Sprachen. Dazu kam ein unglaublich starkes Verlangen nach etwas, was Val nicht begreifen konnte. Eine gottgleiche Macht zerrte an seinen Gedanken, seinen Gefühlen. Eine unendliche Flut an Wissen prügelte erbarmungslos auf seinen kindlichen Verstand ein. Sein Herz schlug so schnell, dass ihm das Blut aus den Ohren und der Nase floss. Als der Anfall sich legte versuchte Val sich wieder aufzurappeln und den anderen nachzulaufen, doch er wurde aufgehalten als die Polizei eintraf. Der größere der beiden Beamten betrat den Laden und kam mit dem schwer verletzten Verkäufer wieder heraus. Der etwas pummelige Mann hatte ein blaues Auge und ihm lief Blut aus Nase und Mund. Der Polizist schleppte ihn mühsam nach draußen. Sein rechtes Bein schien gebrochen und er hatte tiefe Kratzer im Gesicht. Mit letzter Kraft hob er den Kopf und sah Val an der Wand kauern.

Das Silbere KönigreichWhere stories live. Discover now