~Part thirty-eight~

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Did you hear the rain? ~ George Ezra
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P.O.V. Liv

Ian lässt nicht lange auf sich warten, denn im nächsten Moment wird die Zelttür beiseitegerissen und er steht außer Atem vor mir.

Kurz blicke ich in sein reuevolles Gesicht und schaue dann sofort weg.
Auf einmal scheint die Decke unter mir wahnsinnig interessant und ich fange an daran herumzuzupfen.

"Liv-" fängt er leise an, doch ich unterbreche ihn harsch.

"Halt die Klappe, Ian. Jetzt hörst du mir mal zu."

Aus den Augenwinkeln sehe ich in zusammen zucken, als hätten ihn meine Worte stark geschnitten.
Ich zwinge mich, ihn bei meinen nächsten Worten anzuschauen.

"Weißt du, wie es ist, wenn man sein ganzes Leben ohne Liebe aufwächst? Weißt du, wie es ist, wenn man bis man 16 ist, nicht weiß, was Liebe ist? Oder Freundschaft?" fange ich leise an und schaue ihn durch dringlich an.

Er schaut zu Boden. Feigling.

"Ich habe mein ganzes Leben keine Liebe bekommen. Meine Eltern haben mich behandelt, als wäre ich nur ein Gegenstand oder ein Haustier, um das sie sich kümmern mussten. Sie haben mich aufgezogen, als wäre ich nicht ihr Kind, sondern eine Fremde. Sie hatten von der Regierung die Aufgabe, mich großzuziehen und zu erziehen bis zu meinem Eingriff. Danach wäre ich zu meinem zugewiesenen Partner gezogen und hätte sie wahrscheinlich nie wieder gesehen.
Das schlimmste daran ist eigentlich, dass sie keine Liebe schenken konnten. Sie wissen nicht, was das ist. Und das wusste auch ich nicht. Erst als mein kleiner Bruder geboren wurde wusste ich, dass dieses Flattern in meiner Brust, dieser Beschützerinstinkt und diese starke Verbindung zwischen uns Liebe sein mussten." sage ich und am Ende bricht meine Stimme.

Ich reiße mich zusammen und lasse sie nächsten Worte über meine Lippen fließen, wie sie mir gerade in den Kopf kommen:
"Und Freunde? Freunde hatte ich nie. Klar, es gab Leute in der Schule, mit denen ich mich unterhalten habe. Mit denen ich mich über die coolsten Schuhe, den neusten Tratsch und die besten Schminktipps unterhalten habe. Mit denen ich mich ausgelassen habe über die Looser, die schlechtesten Styles und die strengsten Lehrer.
Aber eigentlich haben mich diese Gespräche nie interessiert, ich bin immer nur mit der Masse geschwommen, um nicht aufzufallen. Und damit habe ich immer zu dem Coolsten der Schule gehört. Aber es war mir egal. Ich habe mich für andere Dinge interessiert.
Ich wollte wissen, warum wir diesen Eingriff haben mussten, warum meine Eltern mich nicht lieben konnten.
Ich habe danach gelechzt zu wissen, warum die Menschen, die ihre Meinung sagen, hingerichtet werden. Und warum ich das sehen musste."

Vor meinem inneren Auge zucken Bilder vorbei, von den Hinrichtungen, bei denen ich war. Die leblosen Augen, die schlaffen Körper, welche in den Seilen hingen.
Das Blut von denen, die auf offener Straße erschossen wurden. Ich hörte das Geräusch immer wieder in meinem Ohren, als abgedrückt wurde.
Ich hatte als Kind schlaflose Nächte, weil ich diese Bilder nicht verarbeiten und vergessen konnte.

"Das habe ich mich dauernd gefragt. Aber es konnte mir keiner beantworten, weil ich nicht danach fragen durfte.
Weißt du, wie es ist, wenn deine Eltern dich zu Hinrichtungen schleppen, anstatt dir abends ein Schlaflied zu singen oder eine Geschichte vorzulesen?" schon wieder bricht meine Stimme und eine einsame Träne tropft aus meinem Augenwinkel.

Ian hebt seinen Blick und sieht mich mit einem Blick an, als würde es ihn von innen zerreißen.
Ich erhebe mich kurzerhand, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein.

"Das alles habe ich mich gefragt und das alles habe ich gefühlt bis ich hier her kam.
Hier habe ich Menschen kennengelernt, die ähnlich denken wie ich und schon bei ganz anderen Fragen sind. Weißt du, was ich gefühlt habe, als ich das erste mal ins Essenszelt kam? Ich habe eine Gemeinschaft gesehen, die miteinander isst, trinkt und lacht. Das erste Mal habe ich mich willkommen gefühlt.
Als ich euch kennenlernen durfte, war ich zuerst noch skeptisch, weil ich das alles hier nicht kannte. Ich habe mich gefragt, ob ihr mit euren Aktionen überhaupt irgendetwas bewirkt. Ich wollte erst nicht glauben, dass all das, was mit von klein auf eingetrichtert wurde, nicht stimmen soll. Aber mit der Zeit und den Erlebnissen habe ich erkannt, was unser System bedeutet und was es will. Und diese Erkenntnis hat mir nicht gefallen. Ich wollte mich wehren, ja ich wollte sogar deine Schwester rächen." rufe ich und werfe die Arme in die Luft.

Was wäre, wenn... #daydreamers18Where stories live. Discover now