Warum schreiben?

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"Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden." (S.Kierkegaard)

In ein paar Monaten werde ich 40 Jahre alt. Dass ich es bis hierhin schaffen würde, hätte ich nie geglaubt. Der Start meines Lebens war so dermaßen verpfuscht, dass ich mit 14 der Überzeugung war, ein solches Alter auf keinen Fall zu erreichen. Kaputt gemacht hatten mich mein Stiefvater, ein sadistischer Trinker und meine co-abhängige Mutter, aber auch der Rest meiner rückgratlosen Familie und all die Menschen in meiner Umgebung, die wohl wussten, was bei uns zu Hause los war, jedoch nichts weiter taten, als hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln.

Heute bin ich Freie Künstlerin, farbenfroh tätowiert und Dresscode-befreit, arbeite im digitalen Bereich und beschäftige mich inhaltlich vor allem mit gesellschaftlichen Machtstrukturen und der Wirkung von Massenmedien und Popkultur. Nebenbei promoviere ich im Fach Soziologie so ein bisschen vor mich hin. Alles, was mit der Emanzipation von Minderheiten und Schwächeren zu tun hat, zieht mich magisch an. Um mehr über Autonomie und Selbstversorgung zu lernen, habe ich 2015 in einem Aussteigerdorf ein autarkes Haus mitgebaut und eine Hütte am Fluss renoviert, vor der ich regelmäßig ausschweifende Lagerfeuernächte mit Freunden genieße - familiär, diskursiv und mit Gitarre. Mein Lieblingslagerfeuersong ist "Imagine". Zur Zeit wohne ich noch in meinem Atelier in einem Künstlerhaus mit 20 Bewohnern und industriellem Charme, doch bald ziehe ich mit meiner Freundin zusammen. Meine große Liebe heißt Bita und kommt aus dem Iran, wo sie der Studentenbewegung angehörte und mehrfach für Proteste inhaftiert wurde. Heute gehen wir gemeinsam auf alle Demos in unserer Gegend - ob Pro Asyl, Seenotrettung, Anti AfD, Metoo, LGBTQ+ oder Fridays for Future - wir malen Plakate, machen Fotos und klettern auch mal auf einen Baum im Hambacher Forst. Mein Freundeskreis besteht fast ausschließlich aus Kulturschaffenden und Akademikern, es herrscht ein feiner Umgangston, man hört einander zu, ist rücksichts- und verständnisvoll, jede paradoxe Gefühlsregung wird respektiert, jeder verrückte Gedanke durchdiskutiert, jede radikale Utopie weitergesponnen. Wir sind liebevoll miteinander, wir umarmen uns, wenn wir uns begegnen und das ist immer ehrlich gemeint.

 Wir sind liebevoll miteinander, wir umarmen uns, wenn wir uns begegnen und das ist immer ehrlich gemeint

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Mein Herz ist heute weit offen und bunt. Ich bin weich, ich kultiviere das Gute und Schöne im Leben. Wenn ich in der Bahn betrunkenen, rumpöbelnden Typen begegne, werde ich innerlich panisch. Wenn mich jemand ankeift oder gar anbrüllt, fang ich sofort an zu zittern. So viel Disharmonie verstört meine zarte Seele zutiefst. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass ich das erste Jahrzehnt meines Lebens in einem Einfamilienknast gesessen habe, in dem ich permanent verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt war. Damals war es normal, dass man mich "Dreckwanst" nannte oder drohte, mich, meine Katze oder meine Mutter zu töten. Das war Alltag, und Alltag bestimmt den persönlichen Härtegrad. Weich sein zu dürfen ist ein Privileg. Kein Kind, dass zur Zeit in Aleppo aufwächst, ist weich. Dass ich heute weich sein kann, ist unheimlich wertvoll und ein Verdienst. Das und vor allem das Gefühl, dass ich irgendwie schon ok bin, inklusive all meiner Macken, das habe ich mir hart erarbeitet.


Wie also bin ich von damals bis hier hin gekommen? Wie ist das passiert, dass ich mich schließlich öffnen konnte, dass ich gelernt habe, zu lieben und mich lieben zu lassen? Dieses Buch soll helfen, den Weg zu rekonstruieren.

Die Idee ist, die ganze Geschichte rückwärts noch einmal durchzugehen und einzelne Episoden mit aktuellen Ereignissen zu verknüpfen. Möglicherweise sorgen meine geplanten Zeitsprünge manchmal etwas für Verwirrung, aber hey, das wird experimentell und damit unlangweilig.

Fuck The CrisisWhere stories live. Discover now