. . . sind die tränen,

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30. Oktober 2011

Isaac,

gestern Abend hat mich Zahra besucht. Sie hat sich Sorgen gemacht, weil ich mich so lange in der Uni nicht blicken lassen habe. Ich habe versucht, ihr einzureden, dass es mir inzwischen gut geht und ich eine Auszeit gebraucht habe. Aber sie hat mir nicht geglaubt, weil ich vergessen habe, dass wir zwar mit Worten die Wahrheit vertuschen können, aber sie sich in unseren Augen widerspiegelt, vor allem in jenen, die nächtelang durchweinen.

Seit deinem Unfall vergeht keine Nacht, in der meine Tränen nicht wie ein Wasserfall fließen, was recht seltsam ist, weil ich tagsüber keine einzige Träne vergießen kann. Es ist so, als würden sie sich absichtlich dagegen sträuben, nur um mich nachts zu plagen und meinen Schlaf zu rauben. Ich ersticke an meinen eigenen Tränen. Sie kontrollieren mich. Der Regensturm in meinem Herzen ist so heftig, dass ich die Tropfen, die aus meinen Augen fallen, nicht stoppen kann. Selbst die Schlafmitteln wirken nicht mehr. Obwohl ich sie drei Stunden vor dem Schlafengehen einnehme, in der Hoffnung, dass der Effekt sich rechtzeitig zeigen würde, passiert nichts.

Stattdessen fahren meine Gedanken Achterbahn und verursachen eine Panikattacke nach der anderen, die mich jeden Tag ein bisschen mehr töten. Die Angst, dich zu verlieren, dass du eventuell nicht mehr aufwachst, hat mich fest im Griff. Ich bin nicht stark genug, sie abzuschütteln. Du wolltest stark für uns sein, Isaac. Du wolltest mich vor meinen Ängsten beschützen. Du wolltest mir all meine Sorgen nehmen. Wieso bist du jetzt dann nicht bei mir, sondern liegst in einem Krankenbett? Ist das deine Methode, um mich zu beschützen?

Ich sollte dir diese Fragen nicht stellen, weil ich kein Recht habe, dich zu beschuldigen, denn auch ich habe dir versprochen, dich vor der Grausamkeit deiner Gedanken zu beschützen, aber wie man sieht, bin ich kläglich gescheitert. Ich konnte dir nicht einmal ansatzweise helfen, den Chaos in deinem Kopf zu lösen, damit du selbst endlich in Ruhe schlafen kannst und die Monster dich nicht mehr heimsuchen.

Ich beginne zu realisieren, dass ich für deine Probleme und Sucht verantwortlich bin. Du hast jedes Mal zu deinem Stoff gegriffen, weil wir uns gestritten haben. Ich habe dir zu viele Fragen gestellt und dich zu Antworten gedrängt, die du mir noch nicht geben wolltest. Meine Neugier und Sorgen um dich haben dich in den Wahnsinn getrieben, sodass du den Worten deiner Monster gefolgt bist. Ich bin der Grund, dass du jetzt halbtot bist, weil ich dich nicht retten konnte. Stattdessen habe ich dir zusätzliche Schmerzen bereitet und dich in die Richtung der Drogen, die du mehr als alles Andere geliebt hast, gestoßen.

Wenn ich rechtzeitig erkannt hätte, dass ich kein Recht dazu habe, dir Fragen zu stellen oder mir Sorgen um dich zu machen, dann hätte ich dich vermutlich retten können, stimmt's? Du hast all deine Versprechen gebrochen, weil meine Neugier dir auf die Nerven gegangen ist, habe ich recht?

Verzeih mir, dass ich keine gute Freundin gewesen bin. Verzeih mir, dass ich es nicht geschafft habe, meine eigenen Versprechen zu halten. Verzeih mir, dass ich zugesehen habe, wie die Kreaturen ihre Krallen ausgefahren haben, dass du der Versuchung hingeben musstest. Verzeihe mir, dass ich nichts unternommen habe, als die Giftstoffe dich mit jedem Stich am Rande des Todes getrieben haben.

In Liebe,
Deine Vanda

Was Uns BleibtWhere stories live. Discover now