EINS

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Es gibt nur eine einzige Regel in diesem Haus: Öffne niemals, NIEMALS, die zweite Tür im ersten Stock.

Es ist eine schwere Tür aus Eichenholz mit Beschlägen aus Messing.

Die Klinke fühlt sich kalt und rau an in meiner Hand. Ich kann es selbst kaum glauben, dass ich gerade kurz davor bin, diese eine Regel zu brechen. Nein, eigentlich bin ich schon mittendrin. Natürlich wollte ich sie nicht brechen. Um nichts in der Welt wollte ich das wundervolle Leben, das mein Mann mir hier ermöglicht, aufs Spiel setzen, und dennoch ... Vielleicht bin ich einfach gelangweilt. Ständig lässt er mich allein. Und dann diese ewigen Schlafstörungen ... Sie treiben mich noch in den Wahnsinn. Wen wundert es da, dass ich des Nachts ruhelos durch das Herrenhaus wandere und auf dumme Gedanken komme?

Ja, es ist wundervoll hier. Doch es ist auch öde. Und nun stehe ich hier, in meinem knielangen weißen Nachthemd, die nackten Füße auf den kalten Fliesen, die verbotene Klinke in der rechten Hand. Nervös knabbere ich an den Fingernägeln meiner linken.

Will ich das hier wirklich tun?

Ich bin mir nicht sicher, doch ich habe das Gefühl, dass ich keine Wahl habe.

Diese verbotene Tür, das Geheimnis um das, was sich dahinter verbergen mag, lässt mich seit dem Tag nicht mehr los, an dem ich hier eingezogen bin. Ich muss einfach wissen, was Andrew vor mir verheimlicht.

Ein leises Quietschen ertönt, als ich die schwere Klinke vorsichtig nach unten drücke. Kaum hörbar, doch meinen aufmerksamen Ohren entgeht nichts. Ängstlich werfe ich einen Blick über die rechte Schulter, doch der Korridor liegt dunkel und verlassen hinter mir.

Totenstille.

Keine Regung im Halbdunkel, niemand, der mich erwischen könnte. Es ist spät, alle schlafen. Ich sollte auch schlafen, doch die Verlockung ist einfach zu groß.

Warum will Andrew nicht, dass ich diesen Zugang öffne? Wäre er sehr böse, wenn er wüsste, dass ich es nun doch tue? Wieso hat er überhaupt etwas vor mir zu verbergen? Immerhin bin ich seine rechtmäßig angetraute Ehefrau. Sollten wir nicht alles miteinander teilen, auch unsere dunkelsten Geheimnisse? Was könnte so schlimm und verboten sein, dass er es nicht einmal mir zeigen will?

Trotzig recke ich das Kinn und gebe mir einen Ruck. Ich lebe hier. Es ist mein gutes Recht zu wissen, was sich alles in diesem Haus befindet, ganz besonders, wenn es möglicherweise etwas Illegales ist.

Angespornt von diesen Gedanken schiebe ich die Türe auf.

Und erstarre.

Ich gebe zu, ich habe mit allem gerechnet: Einer geheimen Schatzkammer, die Andrew vor mir verbergen will. Drogen. Den Leichen seiner Feinde, wenn er denn welche hat.

Doch nichts von alledem ist es, was mich innehalten lässt. Der Raum vor mir ist ... leer.

Nun ja, zugegeben, es ist nicht einfach nur ein leerer Raum. Es ist ein stark renovierungsbedürftiger, leerer Raum.

Durch die dicke Staubschicht auf den drei deckenhohen Fenstern dringt schwach das Mondlicht und legt einen weißen Schimmer über das Bild, das sich mir bietet.

Altmodische Tapeten hängen in Fetzen von den Wänden. Putz rieselt von der stuckverzierten Decke wie feiner Pulverschnee. Der Kronleuchter über mir hat seine besten Tage bereits hinter sich gebracht und sieht so aus, als könnte er jeden Moment herabfallen und mich unter sich begraben. Die royalblauen Fliesen am Boden, die sicher einmal herrschaftlich aussahen, sind ausgeblichen und zerschlagen. Nur noch vage kann man das goldene Muster erahnen, das sie einst verziert haben muss.

Verwundert setze ich einen Fuß in den Raum. Dreck knirscht unter meinen Sohlen und ich zucke zusammen, als sich eine Scherbe in meine nackte Ferse bohrt. Es riecht nach Moder und Verfall. Ich muss niesen, als der Staub mich in der Nase kitzelt.

Das ist es also, was Andrew unbedingt vor mir geheim halten will? Ein zerfallenes Zimmer? Ich lache kurz auf und der Ton hallt unangenehm hoch und laut von den Wänden wider. Das ist wieder typisch für ihn. Er ist so eitel, legt so viel Wert auf Äußerlichkeiten, darauf, wie die Menschen ihn wahrnehmen ... darauf, wie ich ihn wahrnehme, korrigiere ich mich, und ein zärtliches Lächeln huscht über meine Lippen. Mein Andrew.

Kein Schatz, keine Drogen, keine Leichen.

Nur ein heruntergekommenes Zimmer, das ihm offensichtlich so peinlich ist, dass er es unbedingt vor mir verstecken wollte. Immer diese absurde Angst, dass er mir nicht genügen könnte.

Was denkt er sich denn? Dass mir sowas etwas ausmachen würde? Dass es mir etwas bedeutet?

Er legt immer so viel Wert darauf, mich zu beeindrucken und zu verwöhnen, dass er manchmal zu vergessen scheint, dass ich keine Prinzessin bin, sondern nur ein einfaches Mädchen vom Lande. Dass erst er mich zu sowas wie einer Prinzessin gemacht hat, indem er mich hierhergebracht hat. Zu einer Countess.

Kopfschüttelnd durchquere ich das Zimmer, vorsichtig, darauf bedacht, in keine weiteren Splitter mehr zu treten. Langsam gehe ich auf die breite Treppe zu, die sich in der Mitte des Raumes befindet und nach oben führt. Ein abgewetzter roter Teppich bedeckt ihre Stufen.

Ich habe nun gesehen, was ich sehen wollte. Ich weiß jetzt, dass Andrews Geheimnis kein schlimmes ist, eigentlich sollte ich nun endlich zurückgehen und mich schlafen legen. Doch meine Neugierde lässt das nicht zu. Jetzt muss ich wissen, wohin die Treppe führt. Ein weiteres verfallenes Zimmer? Wie viele Räume hat dieses Haus? Ich fürchte, es ist um einiges größer, als ich bisher dachte.

Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, steige Stufe um Stufe nach oben. Die morschen Bretter unter dem Teppich knarzen unter meinen Füßen, bis ich schließlich in einem weiteren kleinen Zimmer lande, das genauso baufällig aussieht wie das erste. Keine Fenster, keine Türen, keine Möbel. Nur alte Tapetenreste an den Wänden, abblätternder Putz, vergilbte Fliesen. Nichts hier sieht nach dem Palast aus, der es eigentlich ist.

Fast bin ich ein wenig enttäuscht über das Geheimnis meines Mannes. Natürlich bin ich auch erleichtert darüber, keine Leichen vorgefunden zu haben, aber nun, da das große Rätsel gelöst ist, erscheint mir mein Alltag noch dröger als zuvor.

Nur zwei kleine, kaputte Räume. Mehr nicht. Das war das Geheimnis, das mir die letzten Wochen den Schlaf raubte.

Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und beschließe dann, diesen Raum wieder zu verlassen und mich nun endlich in mein Bett zu legen, wie ich es schon längst hätte tun sollen. Einen kurzen Moment lang überlege ich, ob ich Andrew morgen erzählen soll, dass ich sein kleines Geheimnis gelüftet habe und dass es mir nichts ausmacht, doch dann entscheide ich mich dagegen.

Offensichtlich schämt er sich wirklich sehr für diesen Teil seines Anwesens, auch wenn ich es nicht verstehen kann. Aber ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen und nehme mir deshalb vor, ihn in dem Glauben zu lassen, nie geöffnet zu haben.

Entschlossen steige ich die breiten Stufen der Treppe wieder hinab und wende mich in die Richtung, aus der ich hereingekommen bin. Doch als mein Blick auf die Wand fällt, erstarre ich.

Die Tür ist verschwunden.


Scherbenprinzessin (Leseprobe)Where stories live. Discover now