Kapitel 14 - Ausgerechnet unberechenbar

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Linelle Mahner

Die Tür schloss sich hinter mir als würde eine trennende Mauer zwischen uns empor steigen, von der ich mir nicht sicher war, wie hoch und unüberwindbar sie sein würde.
Sie war auf einmal da und würde auch nicht so leicht wieder verschwinden.
Ein paar Sekunden starrte ich das weiß gestrichene Holz paralysiert an, bis sich meine Augen bei dem Gedanken an Frau Bließmann, die sich natürlich noch dahinter befand, mit Tränen füllten und ich um Fassung bemüht durch die Korridore der Schule Richtung Hof lief.
Beim Lehrerzimmer und Sekretariat entlang, durch den ersten Stock, die Treppe hinunter, auf der ich eben ausgerutscht war, durchs Foyer im Erdgeschoss zum Ausgang.

Nun war sie wirklich fern. Ferner konnte sie kaum sein. Und ich war allein. So wie immer...

Endlich draußen atmete ich erst einmal konzentriert  gegen meinen inneren, emotionalen Aufruhr ein und aus, ließ die kühle Winterluft in meine Lungen strömen und meinen schnellen Puls beruhigen.
Ich konnte kaum glauben, dass das eben wirklich passiert war.
Wie konnte ein Mensch, der mich gar nicht kannte, so einen wunden Punkt in mir treffen?
Sie hatte einfach drauf los geredet, was ihr durch den Kopf ging und war damit auf Geschehnisse meines Lebens gestoßen, die sie nicht erahnen konnte und die sie nie erfahren würde. Es war, als würde sie Ereignisse kommentieren, die seit Jahren von mir in den Hintergrund gedrängt wurden und deren einstiges Passieren ich am liebsten vergessen wollte. Binnen Sekunden fühlte ich mich entblößt, ohne darauf Einfluss zu haben. Ohne es selbst entschieden zu haben. Als hätte jemand ungefragt einen Blick hinter meine schützende Maske geworfen, die ich krampfhaft versuchte, festzuhalten. Sie zog an ihr, ohne es zu wissen. Einfach so.

Oder wusste sie es doch?
Nein, das kann nicht sein...

Offenbar musste mein Karma derart miserabel sein, dass es mich mit einem Menschen wie Frau Bließmann strafte...
Sie machte mich ratlos.
Wer ist sie nur und was will sie von mir?!
Langsam hatte ich den Eindruck, ihr Auftauchen brachte nicht nur meine Emotionen und mein Leben durcheinander, sondern forderte mich auch noch provokativ mit der Konfrontation negativer Ereignisse heraus.
Anfangs dachte ich ja, es wäre gut, dass sie auf unbekanntem Terrain herumirrte, denn solange sie keine Karte fand, die ihr einen Weg zeigte, würde sie mir auch nicht gefährlich werden.
So viel zur Theorie. In der Realität kam sie mir mit ein paar harschen Sätzen, die ich aus einem komplett anderen Kontext kannte, so schnell so nah, dass ich mir nicht anders zu helfen wusste, als zu flüchten. Ich wollte weg.

Immerhin konnte ich es jetzt, im Gegensatz zu damals...

Ihre Direktheit war zu viel für mich. Sie war zu viel für mich. Versuchte ich mich doch mühevoll in Verschlossenheit, war ich für sie wohl nur zu leicht zu durchschauen.
Wusste sie es nicht besser?
War es vielleicht wirklich keine Absicht?
Steigerte ich mich zu sehr in ihre Worte hinein?
Nein.
Solche Dinge sagte man doch nicht zufällig...
Von irgendwoher musste ihr Interesse kommen und ihr präzisier Sensor für eine hintergründige Richtung herrühren.
Woher?
Mit meinen abweisenden Reaktionen hatte ich sie scheinbar genau dorthin gelockt, wo ich sie auf keinen Fall haben wollte.

Wie dem auch sei, auf mich wirkte es, als wollte sie mich bloß für ihre Lehrprobe besänftigen. Aber als ich sie mit dieser Vermutung konfrontierte, schaute sie mir derart perplex entgegen, dass ich mir nun im Nachhinein nicht mehr ganz so sicher war, dass das tatsächlich ihre einzige Intention war.
Was denn sonst?
Selbst wenn Manipulation nicht ihre Absicht und ihre Freundlichkeit tatsächlich aufrichtig war, wie ich sie bis vor einigen Minuten einschätzte, hatte sie Dinge zu mir gesagt, deren Wirkung sie unterschätzte. Damit hatte sie mir erneut gezeigt, dass ich mich unbedingt von ihr fern halten musste. Es ging nicht anders. Und das nicht nur, weil sie meine Lehrerin war, sondern auch, weil ich bei ihr wohl nie die Kontrolle darüber hätte, was ich vor ihr preisgab und was nicht.
Schon ganz zu Anfang hatte ich gemerkt, wie leicht sie meine äußeren Grenzen überwand und nun war sie an solchen angelangt, die bereits länger niemand auch nur gesehen, geschweige denn berührt oder überwunden hatte. Meinen Emotionen.
Ich hatte mir abgewöhnt, sonderlich stark auf Ereignisse zu reagieren, weil meine Toleranzgrenze für Provokation so erstens erhöht wurde und ich zweites auf diese Weise möglichst wenig Angriffsfläche bot. Ich ging charakterlich einfach in der Menge unter, weil mich niemand besser kannte, als der andere. Jeder wusste ungefähr die gleichen, belanglosen Dinge über mich und mehr gab es auch nicht zu erfahren. Anderes ging schlichtweg niemanden etwas an.
Und dann kam Frau Bließmann und grätschte vollkommen ungebremst und ahnungslos in mein mühevoll errichtetes Schutzsystem. Sie wusste nicht, wie sie auf mich wirkte, wie sie mich beeinflusste, mich ohne großes Zutun veränderte.
Mit ihren Worten hatte sie mich soeben sogar dazu bewegt, meine Stimme zu erheben, was ich normalerweise strikt zu vermeiden versuchte, um nicht ungehalten zu wirken.
Ich hasste Streit. Ich war ein unglaublich harmoniebedürftiger Mensch und sie brachte meine zwanghaft angestrebte innere Harmonie, die ich mit mir selbst suchte, durcheinander.
Nur mit ein paar direkt platzierten Worten.
Ihre Reaktion auf meine Antwort schien derart perplex und verwirrt, dass ich darüber nachdachte, ob es möglich war, dass sie tatsächlich nicht von einer böswilligen, hinterhältigen Absicht angetrieben wurde, sondern schlicht und einfach mit mir geteilt hatte, was in ihrem Kopf vor ging.
Konnte es so einfach sein?

Das Wunder ihrer AugenWhere stories live. Discover now