Kapitel 21

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In den letzten Monaten hatte sich mein gesamtes Leben verändert – und doch blieben bestimmte Dinge gleich. So sehr man auch das Gefühl hatte, dass die Welt sich drehte und wendete und Purzelbäume schlug.

Die Schule ragte unverändert in den Himmel.

Das Treppenhaus roch unverändert muffig.

Die Flure in den oberen Stockwerken waren unverändert laut und eng.

Ich fühlte mich wie in einem Déjà-vu. Als hätte ich all das schon einmal erlebt.

»Hallo, ich bin Scarlett Bell von Jupiter. Ich bin hier für den Matheunterricht bei Frau Jenkins.«

Als hätte ich all das schon einmal gesagt.

»Natürlich. Gehen Sie bitte den grünen Flur entlang und drehen sich nach links. Ihr Unterrichtszimmer ist das am Ende des Ganges.«

Als hätte ich all das schon einmal getan.

Und doch war etwas anderes: Evelyn hatte mit mir zusammen Unterricht, nicht Arthur.

»Schön, dich wiederzusehen, Scarlett«, begrüßte mich Frau Jenkins und schob ihre korpulente Figur am Schreibtisch vorbei, um mir die Hand zu geben. »Hast du Lust auf Mathe?«

»Und wie, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.«

Evelyn brach in Gelächter aus, das wie eine Mischung aus gurrenden Tauben und quietschenden Meerschweinchen klang. Frau Jenkins bedachte sie lediglich mit einem trockenen Lächeln und teilte die Arbeitsblätter der heutigen Stunde aus. Ich musste mir auch das Grinsen verkneifen, wusste aber, wie sehr meine Mathelehrerin mich mochte. Eine kleine Notlüge tat doch nicht weh.

»Wollt ihr es erst einmal selbstständig versuchen oder soll ich die Aufgaben mit euch durchgehen?«

Dieses mütterliche Gefühl in ihrem Unterricht hatte ich vermisst.

»Von mir aus würde ich es gerne erst einmal alleine probieren, wenn das in Ordnung ist.«

»Ja, selbstverständlich! Ich bin mir auch sicher, du kriegst das hin. Du hattest ja nie Probleme mit Mathe.«

Sie schenkte mir ein warmes Lächeln und verschwand wieder hinter ihren Schreibtisch, setzte sich Kopfhörer auf und sah sich ein Video über didaktische Lehre an, das aussah, als wäre es den Achtzigern entsprungen.

»Hast du das mitbekommen? Die hat mich zum Ende hin nicht einmal mehr angeschaut«, murrte Evelyn und beugte sich über das erste Arbeitsblatt.

Ich musste grinsen und erwiderte ihren beleidigten Blick. »Es kann eben nur eine von uns der Lehrerliebling sein«, flüsterte ich zurück und warf die Haare über die Schultern.

Den Rest der Stunde verbrachten wir mit Geometrie, der pq-Formel und Stochastik. Für Evelyn ein Albtraum, den sie nur mit den Zuckerbomben aus Frau Jenkins' Naschschubladen überstand, für mich eine angenehme Abwechslung. Endlich konnte ich etwas anderes machen als nur über mein Leben und die Konflikte anderer nachzudenken, musste mich auf ein abstraktes Problem konzentrieren, das keine Lebensexistenzen bedrohte oder Gefühle verletzte. In der regulären Schule war Mathe nie eines meiner Lieblingsfächer gewesen, doch seit ich in der Klinik war, sehnte sich mein Gehirn nach dem strukturierten Vorgehen bei Rechenaufgaben.

Zum Ende der Stunde und keine Sekunde später schulterte Evelyn ihre Tasche und stürmte aus dem Matheraum. Ich schaute mich noch einmal nach Frau Jenkins um, die sich lächelnd meine gelösten Aufgaben durchlas, und verabschiedete mich, bevor ich ebenfalls den Raum verließ.

»Was willst du machen? Wir haben ja noch eine Viertelstunde bis zum nächsten Unterricht. Was kommt bei dir als nächstes?«

Evelyn guckte auf den Stundenplan in der Mitte des Flurs und winkte mich zu sich. Es war mühseliger als gedacht, zu ihr aufzuschließen, denn nicht nur wir hatten jetzt Pause. Die jüngsten Patienten wurden gerade aus dem Unterricht entlassen und stürmten durch die Gänge, rempelten mich an und schlugen mit den Ellenbogen um sich, um zuerst ans Ziel zu kommen – wo auch immer das war.

Ein Blumenstrauß an HoffnungsschimmernWhere stories live. Discover now