Kapitel 25

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Es würde nicht einfach werden.

Die Akten lagen in einem mehrfach abgeschlossenen Schrank im Betreuerbüro. Dreimal täglich wurde er zur Schichtübergabe geöffnet und dann wieder verschlossen, mit einem Zeitfenster von einer halben bis ganzen Stunde. Währenddessen saßen alle Betreuer im Büro, ihre Augen fest fixiert auf die Akten.

Diese verdammten Akten. Jetzt und hier beim Abendessen saß ich nur wenige Meter von ihnen entfernt und doch war es unmöglich, an sie heranzukommen. Die Schlüssel für den Schrank trug jeder Betreuer am Hosenbund, also entfiel auch die Möglichkeit, einfach einen Schlüssel zu entwenden.

Wollte ich mich überhaupt strafbar machen? Es war illegal, extrem illegal, den Datenschutz derart zu verletzen, das wusste ich.

Und doch waren da die Neugier und die unendlichen Fragen.

Ich musste es einfach tun. Ich musste mir Sams Patientenakten holen. Sonst würde ich es für immer bereuen und mich fragen, was mir entgangen wäre.

»Wer ist heute mit dem Tischabdecken dran?«

Herr Bennett schaute in die Runde, sein Blick blieb an mir hängen. Zwei Stühle weiter hörte ich, wie Evelyn hin und herrückte. Sie hatte immer wieder mit ihrem Plan gehadert, Herrn Olsen nach der Übergabe an die Nachtschicht auf ihre Wunde anzusprechen; ich hatte sie immer wieder bestärken müssen.

Sie musste ihn ansprechen, und zwar noch heute. Sonst würde ich es tun, das hatte ich ihr versprochen.

»Ich mache das.«

Mein Geschirr war schnell in der Spülmaschine verladen, die anderen gaben ihre eigenen Teller und Messer bei mir ab. Küchendienst war schon immer eine Pflicht gewesen, die ich zu gerne ignoriert hätte, doch aufgrund der wöchentlichen Rotation der Aufgaben blieb mir keine andere Wahl. Die schrillen Geräusche der Keramiktassen und das Klappern der Plastikteller versetzten mich immer wieder in einen Panikmodus.

Herr Bennett stellte sich neben mich und beobachtete meine Arbeit, nachdem er die Tassen und Messer durchgezählt und meine Hosentaschen begutachtet hatte, damit ich oder ein anderer Patient ja nichts einsteckte.

Diese ständige Beobachtung war mir schon immer fremd gewesen, doch hier war sie so offensichtlich wie sonst nur beim Duschen auf der Intensivstation. Jede Bewegung meiner Finger wurde beobachtet und nichts außer Acht gelassen. Ich fühlte mich wie ein Etwas, nicht ein Jemand.

Eben ein wissenschaftliches Experiment. Ein Alien, der unter Kontrolle gestellt werden musste.

Ich wagte einen Blick nach links. Sein Schlüsselbund war nur wenige Zentimeter von mir entfernt...

Um Punkt sieben Uhr abends trat Herr Olsen in den Gruppenraum. Er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen, lächelte jedoch, als er mich in der Küche stehen sah. Die Ringe unter seinen Augen hatten sich seit unserem letzten Gespräch nur noch weiter verdunkelt und seine sonst so gebräunte Haut wirkte fahl und seine Stirn lag in tiefen Falten.

Wir beide schauspielerten. Nur verbargen wir verschiedene Dinge.

Herr Bennett verließ seinen Posten neben mir und ging auf seinen Kollegen zu. Das hatte er noch nie getan.

»Glaubst du wirklich, dass es dir gut genug ge–«

»Ja, Sebastian, mir geht es gut genug. Es gibt Höhen und Tiefen, ist doch bei jedem so.«

»Und Iris?«

»Sie leidet, wie wir alle. Es ist momentan sehr anstrengend. Ich weiß nicht... Ich komme einfach nicht mehr an sie heran, sie hat da diese Mauer um sich herum aufgebaut.«

Zwar kannte ich seine Frau nicht, doch ich litt mit ihr. Ein Kind zu verlieren, ohne je die Chance gehabt zu haben, es kennenzulernen, musste einfach schrecklich sein.

Die Spülmaschine schloss sich mit einem lauten Klicken und beide Betreuer drehten sich in Lichtgeschwindigkeit zu mir um. Ich hob die Arme, zeigte meine Hosentaschen und schon atmete Herr Bennett wieder erleichtert aus.

»Herr Olsen?«

Es war der falsche Zeitpunkt, das fühlte ich. Aber wenn ich jetzt nicht fragte, würde ich es immer vor mir aufschieben.

»Ja?« Er lächelte, wie immer, wenn er mit mir sprach.

»Kann ich Sie später noch was fragen?«

Herr Bennett hatte sich ins Betreuerbüro zurückgezogen, doch wäre er ein Hund, hätte er die Ohren gespitzt und voll auf uns ausgerichtet. Herr Olsen warf seine Jacke auf eine Stuhllehne und legte den Kopf schief.

»Ich habe jetzt auch Zeit, alles in Ordnung.«

Leider schien Herr Bennett ebenfalls schrecklich viel Zeit übrig zu haben.

»Ja, ähm...« Wie fing ich nur am besten an? »Ich habe eine Frage zu Sams Sachen.«

Herr Bennett drehte sich leicht und schielte mich über Herr Olsens Schulter hinweg an; in der Hoffnung, ich würde es nicht mitbekommen.

Tat ich aber.

»Oh, ja.« Herr Olsen schien nach Worten zu ringen. Gedanklich hatte er eben noch bei seinem toten Sohn gesteckt und jetzt musste er sich mit dem Hab und Gut einer toten Patientin auseinandersetzen. Ich hatte einen wirklich schlechten Zeitpunkt erwischt.

»Haben Sie was von Ernie gehört? Wissen Sie, wo er ist?«

Es platzte einfach aus mir heraus.

»Und Ernie ist...«

»Ein Affe. Er lag auf meinem Schreibtisch oder auf ihrem oder irgendwo, ich weiß es nicht mehr so genau. Jedenfalls war er im Zimmer, als es passiert ist.«

»Ich nehme an, du redest nicht von einem echten Affen.«

»Nein.«

»Sondern...« Seine Augenbrauen erreichten ihren Höchststand.

»Ach so, entschuldigen Sie. Ernie ist ein blauer Stoffaffe, den Sam für mich gemacht hat. Ich vermisse ihn sehr und ich muss ihn wiederbekommen. Er ist wirklich wichtig.«

Herr Bennett spitzte die Lippen und verzog die Lippen, als hätte ich gerade einen Sterbenskranken nach einem gemeinsamen Selfie gefragt. Sollte er sich doch mit seinem eigenen Kram beschäftigen.

Arschloch.

Ich war erschrocken über meine eigenen Gedanken, aber wenn es um Sam ging, hatte ich keinen Toleranzbereich. Ernie war ein Teil von ihr, den sie mir hinterlassen hatte. Es war nicht albern, dass ich ihn zurückhaben wollte, immerhin gehörte er mir.

Oder hatte ich überreagiert?

Für die meisten war Ernie nur ein Stückchen Stoff.

»Das kann ich verstehen, wirklich.« Herr Olsen setzte sich ans Tischende und überlegte für einen Moment. Dann fuhr er zusammen, als wäre er aus einem Traum erwacht, und blickte zu mir auf. »Ich frage bei der Klinikleitung nach, ja? Wir werden Ernie schon auftreiben.«

Erst war da die Beruhigung, die meine Blutbahnen durchlief.

Es wird schon alles gut werden. Sie finden Ernie.

Dann folgte die Sorge.

Vielleicht hat ihn jemand weggeschmissen. Einfach so.

Und zuletzt kam die Leere.

Ich kann eh nichts machen. Ich bin machtlos.

»Dankeschön.«

Meine Lippen waren rau, fühlten sich trocken und taub an.

»Möchtest du etwas trinken? Ein Glas Wasser?«

Ich nickte.

Und während ich Herrn Olsen dabei beobachtete, wie er in die Küche marschierte und einen Schrank öffnete, fiel mir eine rundliche Gestalt durch das Innenfenster der Küchentrennwand auf.

Es war Evelyn. Die sich den Unterarm hielt. Und aussah wie auf dem Weg zum Schafott.

»Herr Olsen? Kann ich Sie mal sprechen?«

Ein Blumenstrauß an HoffnungsschimmernWhere stories live. Discover now