16. Im Königreich der Seele soll die Liebe Königin sein

615 26 0
                                    

Ich habe keine Chance, zu verschwinden und ein Zusammentreffen zu verhindern. Kaum ist die Band mit den Zugaben fertig, nimmt mich Burney an der Hand und zieht mich weg, fröhlich auf mich einredend. Bevor ich weiss, wie mir geschieht, finde ich mich in einem Raum backstage wieder, der zwar spartanisch eingerichtet, aber gemütlich ist. Schon bin ich wieder allein. Von allem, was Burney gerade gesagt hat, könnte ich kein Wort wiedergeben. Auf ihn muss ich wie ein Zombie gewirkt haben. Ich fühle mich nicht ansatzweise bereit, Paddy gleich wiederzusehen. Die Geschichte mit dem Traum habe ich noch nicht im Geringsten verarbeitet oder ergründet, mir schwirrt der Kopf, ich fühle mich geflasht und verwirrt, und der Alkohol tut sein Übriges dazu.
„Hey, soulgirl", höre ich seine sanfte Stimme plötzlich hinter mir. Ich drehe mich um. Er strahlt mich mit geröteten Wangen an, ist verschwitzt und wirkt aufgekratzt. Das blühende Leben. Und ich, der Zitterzombie. Ich muss mich an der Wand anlehnen.
„Hey, alles ok?" fragt er erschrocken und kommt mit schnellen Schritten auf mich zu. Na toll, noch mehr Nähe.
„Ja, es geht schon", beschwichtige ich ihn, „war nur etwas viel eben."
„Setz dich doch. Hier, nimm etwas Wasser." Er führt mich zum Sofa und stellt mir eine Wasserflasche hin.
„Hör zu, ich würde gerne schnell duschen, aber dann bin ich sofort bei dir. Ok? Geht's denn wieder?"
Ich nicke erschöpft. „Ich komme klar, mach nur", lächle ich. Das meine ich auch so. Eine kurze Pause von seiner Nähe ist jetzt genau das Richtige.
Gierig stürze ich mich auf die Wasserflasche und während der zehn Minuten, als er duscht, kann ich mich zum Glück ein wenig sammeln und mich auf die Nähe, die nachher wieder folgen wird, etwas vorbereiten. Vielleicht hat er ja für die Sache mit dem Traum wieder eine so gute Erklärung wie kürzlich im Hotelzimmer. Er wird mich sicher beruhigen können. Ich atme tief durch und leere das restliche Wasser in einem Zug.
„Hey..." Er steht in frischen Klamotten und mit feuchten Haaren im Türrahmen.
Ich lächle ihn befreit an. Es geht mir besser.
„Wieder gut?" hakt er besorgt nach und setzt sich zu mir auf's Sofa. Ich nicke lächelnd. Ok, klappt schon etwas besser mit der Nähe.
Aber jetzt muss es raus. Ich hole tief Luft und erzähle ihm von meinem Traum. Von UNSEREM Traum. Während ich erzähle, weiten sich seine Augen und er schüttelt immer wieder ungläubig den Kopf. Am Ende meiner Zusammenfassung hat er die Ellbogen auf den Knien abgestützt und den Kopf in den Händen vergraben.
„This is fucking crazy...", murmelt er. Ja, das kannst du laut sagen, denke ich. Er steht auf und läuft wie ein Tiger im Käfig auf und ab, vor und zurück. Kurz darauf setzt er sich wieder zu mir und sieht mich mit einer Mischung zwischen Erstaunen und Faszination an. Er öffnet den Mund und klappt ihn wieder zu, ohne etwas zu sagen. Ein schiefes Lächeln umspielt seine Lippen und er schüttelt wieder ungläubig den Kopf.
„Abgefahren. Scheisse, das ist abgefahren. I'm going nuts! This is nuts!" Er springt wieder auf, um mit seinen Runden fortzufahren. Keiner von uns beiden sagt mehr ein Wort. Ich stehe auch auf und räuspere mich.
„Tut mir leid. Ich wollte dir nicht den Abend verderben. Ich, ähm... Es war so unglaublich schön. Deine Band ist toll und du bist... Ein Ausnahmekünstler. Und unser Traum... Und der Song... Also ich habe noch nie in meinem Leben sowas Berührendes erlebt. Dieser Abend ist einfach... Zu viel, es..." Ich kämpfe mit den Tränen.
Mit schnellen Schritten ist er bei mir, packt meinen Arm und zieht mich ruckartig zu sich.
„Hey, soulgirl. Don't cry. Alles ok", raunt er, während er seine Finger in meine Jacke krallt und seine Nase in meinen Haaren vergräbt. Ich zerfliesse, schwebe, verliere das Gefühl für meinen Körper. Wieder eine Flash-Umarmung. Ein Rausch der Emotionen und der Sinne. Aber ich werde augenblicklich ganz ruhig und fühle mich geborgen; als wäre ich nach Hause gekommen.
Irgendwann lösen wir uns aus der Umarmung, halten uns aber noch fest und bleiben dicht an dicht stehen. Durchdringende Ozeanaugen, die bis in meine Seele blicken. Himmelduft. Seine Nasenspitze berührt fast meine.
Ich spüre seinen schnellen Herzschlag. Er krallt seine Finger in meinen Rücken und presst seine Hüfte schwer atmend gegen meine. Oh Gott. Er nimmt eine Hand von meinem Rücken und fährt mit seinem Daumen die Konturen meiner Lippen nach.
„Wir dürfen das nicht tun", presst er hervor.
„Nein", flüstere ich kaum hörbar zurück und habe das Gefühl, er könne meinen Herzschlag hören. Wir atmen beide schnell und wieder presst er sich gegen mich, öffnet den Mund und atmet stossweise aus. Jetzt kann ich mich nicht mehr beherrschen und vergrabe meine Finger in seinen Haaren.
Er atmet schneller.
„Ok...", flüstere ich. „Wir müssen aufhören..."
„Ja...", raunt er, nur um sich noch fester an mich zu pressen.
Ich beende es, indem ich meine Finger aus seinen Haaren löse und mich etwas aufrichte. Er lässt mich los und tritt einen Schritt zurück. Es ist vorbei. Ich weiss nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein soll.
Seine Haare stehen ihm in alle Richtungen ab. Meine Wangen glühen. Wie zwei Bekloppte starren wir uns an. Er fährt sich mit der Hand durch die Haare, bläst die Wangen auf und atmet laut aus.
„Was machen wir hier, soulgirl..." murmelt er und lächelt mich schief an.
„Ich habe nicht den leisesten Schimmer", flüstere ich.
„We need e plan, I guess."
Ich muss lachen. „Ich wüsste nicht, welcher Plan hier helfen würde."
„Paul fährt dich erstmal nach Hause, soulgirl. Let's talk later."

SoulgirlWhere stories live. Discover now