02 - Wachsen

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[Kapitel 2] – Wachsen

Sonntagabend, 20:32 Uhr

Yoongi hat seinen freien Sonntag mit Arbeiten verbracht. Er hat seine eigenen Aquarien sauber gemacht, die Scheiben gereinigt, die Filter gewechselt, die liebevoll zusammengestellte Dekoration vom unerwünschtem Algenbefall befreit. Natürlich hat er die darin lebenden Bewohner auch gefüttert und sie beobachtet. Das macht der stille Junge eigentlich am liebsten, wenn er in seiner Wohnung ist – die Fische beobachten. Yoongi mag Fische, deswegen hat er sich auch zum Tierpfleger ausbilden lassen. Seine Schulnoten waren ohnehin nicht gut genug, als dass es für ein Studium gereicht hätte, auch wenn sich das seine Eltern immer für ihn gewünscht hatten. Die Loopings in Yoongis Kopf wurden von den Lehrern oft als Verweigerungshaltung interpretiert, wenn er auf eine gestellte Frage mit einer völlig unpassenden Antwort reagiert hat. Nicht das Yoongi die korrekte Antwort nicht gewusst hätte, er hat sie nur nicht schnell genug zu fassen bekommen und die erwartungsvollen Blicke seiner Mitschüler haben ihn immer zu übereilten Reaktionen gedrängt. Die Blicke waren ihm damals schon unangenehm und sie wurden immer unangenehmer, je länger sein Schweigen angedauert hat. 

 
Seine Eltern waren wegen Yoongis Schulproblemen mehr als einmal bei der Schulleitung und haben versucht mit dem Direktor zu reden, um für ihn besondere Unterrichtsbehandlungen und Prüfungsbedingungen auszuhandeln. Aber ohne eine ärztlich bestätigte Diagnose waren auch dem Direktor die Hände gebunden. So wurde Yoongi im Laufe seiner Schulzeit zu vielen, vielen Ärzten gebracht, die Elektroden an seinem Kopf befestigt haben und stundenlang damit beschäftigt waren, seine Gehirnströme aufzuzeichnen. Als sich daraus ein viel zu eindeutiges Bild ergab, war schnell klar, dass alle biochemischen Prozesse in Yoongis Kopf naturgemäß korrekt ablaufen. Also musste die Störung, denn so nannten sie das Problem, eine andere Ursache haben. Störung. Yoongi muss bei diesem Wort noch heute unangenehm trocken schlucken und kann sich einfach nicht an den bitteren Geschmack der Buchstabenreihenfolge in seinem Mund gewöhnen. Nach den gescheiterten Neurologen folgte daher der Besuch bei so einigen Psychologen, die sich allesamt nicht einigen konnten, ob die unstrukturierten Antworten und inhaltslosen Anknüpfungen auf eine eher harmlose Aufmerksamkeitsdefizitstörung hinweisen oder doch die ersten Anzeichen einer bipolaren Persönlichkeit darstellen. Yoongi mochte diese Besuche noch weniger als die vorherigen. Wenn seine Gehirnströme gemessen wurden, durfte er wenigstens die meiste Zeit schweigen. Jetzt wurde er dazu gezwungen zu reden. Und das die ganze Zeit lang.

Yoongi mochte von all diesen Ärzten, denen er in seinem früheren Leben bereits begegnet ist, nur einen. Er hat ihm erklärt, dass die Sprünge in seinem Kopf bloß Gedankenloopings sind. Ein Begriff, den Yoongi heute noch gerne benutzt, wenn er anderen Menschen erklärt, was sich in seinem Inneren abspielt. Nicht, dass das schon besonders häufig vorgekommen wäre. Aber immerhin ist es ein viel besseres Gefühl, von sich selbst zu denken, dass die eigenen Gedanken Loopings drehen und nicht gestört sind, dass man selbst keine Störung hat, nicht defekt ist. Man ist nur anders, vielleicht ein bisschen mehr Achterbahn als andere Menschen. Und auch wenn viele Personen zunächst Angst davor haben und sich scheuen mit der wilden Attraktion zu fahren, genießen sie es dann doch und können die Freude und das Adrenalin nicht leugnen, was sich währenddessen mit Hochdruck durch ihre Venen kämpft. Genau so sieht sich Yoongi selbst auch. Wenn die Leute sich nur mal auf seine Gedankenloopings einlassen würden, würden sie vielleicht erkennen, dass Yoongi eigentlich Spaß macht. Dass er ein ganz cooler Typ ist, mit dem man gemeinsam die ein oder andere aufregende Runde drehen kann. Dieser besagte Arzt hat auch seinen Eltern erklärt, dass mit ihm eigentlich alles in Ordnung ist, dass die unzähligen Arztbesuche und diffusen Diagnosen Yoongi nicht weiterhelfen werden, weil er diese Art der Hilfe gar nicht braucht. Dass sie ihrem Sohn lieber zuhören sollen, wenn dieser etwas zu sagen hat, anstatt andere Menschen dafür zu bezahlen, eben genau das zu tun. Manchmal schreibt Yoongi diesem Arzt einen Brief, um ihm davon zu berichten, dass er sich nicht in ihm geirrt hat, dass es ihm gut geht und er zurechtkommt. Er berichtet dann von den positiven Neuigkeiten in seinem Leben, wie beispielsweise dem Umzug in die erste eigene Wohnung oder dem erfolgreichen Abschluss seiner Ausbildung. Dr. Kim Namjoon antwortet auf jeden einzelnen der Briefe, aber jetzt hat Yoongi schon eine ganze Weile nicht mehr geschrieben.

Unter Wasser hören wir einander mit dem HerzenWhere stories live. Discover now