03 - Aufbäumen

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[Kapitel 3] – Aufbäumen

Donnerstag, 19:23 Uhr

Das Treffen mit Jimin ist jetzt vier Tage her. Yoongi hat heute zum ersten Mal seitdem wieder Spätschicht und ist ein bisschen aufgeregt, weil er ihn wahrscheinlich gleich im Sea Life wiedersehen wird. Schließlich kommt Jimin jeden Abend dort hin, oder? Der minthaarige Junge ist sich nicht sicher, weil er ihn vorher nicht so bewusst wahrgenommen hat. Wenn Jimin da war und sich die Möglichkeit ergeben hat, hat Yoongi ihn ein bisschen beobachtet, aber sich dabei nicht genug dafür interessiert, um zu bemerken, wie häufig er wirklich da ist. Wenn der Schwarzhaarige nicht da ist, wird Yoongi zum Starbucks gehen und einen Milchshake trinken. Er hat Schokokaramell noch nicht ausprobiert. Dann kann er Jimin dort treffen. Bisher hat er sich nicht getraut, einfach so hinzugehen. Diesmal wurde er nicht eingeladen.
Yoongi hätte ihm auch gerne geschrieben, um zu fragen, ob sie sich heute sehen werden. Oder um zu fragen, was er gestern gemacht hat oder ob er Silber schöner findet als Mintgrün oder ob er sich morgens, wenn er aufwacht, glücklich fühlt. Aber als sie sich voneinander verabschiedet haben, hat Yoongi es nicht geschafft, nach Jimins Nummer zu fragen. Oder nach seinem Instagram-Account. Oder seinem Facebookprofil. Benutzte man heutzutage überhaupt noch Facebook? Yoongi wusste es nicht. Er hatte sich weder bei Instagram noch bei Facebook jemals angemeldet, aber jetzt hätte er sich dort registriert. Für Jimin. Stattdessen hatte er von dem Abend, neben seinen eigenen Erinnerungen, nur den Becher aufgehoben, der mit der Nummer von diesem Jungkook beschrieben war. Aber ihn anzuschreiben und zu fragen, ob er zufällig wüsste, wie er Jimin erreichen könne, kam ihm falsch vor, weil Jungkook sich wahrscheinlich eine ganz andere Art von Nachricht von dem minthaarigen Jungen erhoffte.
Yoongi hatte probiert nach Jimins Nummer zu fragen, wirklich, als sie sich auf der kleinen Straße zwischen Starbucks und Strand gegenüberstanden. Er hatte den Gedanken schon fest im Griff, quasi den Geschmack bereits auf den Lippen, als Jimin ihn wieder mit diesem besonderen Lächeln angesehen hat. Der darauffolgende Looping in seinem Kopf brachte Yoongi völlig durcheinander. Schließlich sagte er: „Ich mag deinen schiefen Schneidezahn."


Er hat sich sofort umgedreht und ist gegangen, ohne die Reaktion oder gar eine Antwort abzuwarten. Seine eigene Aussage war ihm so unangenehm, dass für einen kurzen Moment der desinteressierte Ausdruck in seinem Gesicht verrutscht und er beinah rot geworden ist. Rot. Das war ihm noch nie passiert. Vielleicht ist er auch deswegen heute Abend ein bisschen nervös und kann sich nicht mal durch den Anblick der vielen Fische um ihn herum beruhigen, welche seelenruhig ihre Bahnen ziehen, als sei ihre Welt noch nie erschüttert wurden. Yoongi ist sich nicht sicher, ob seine Welt durch das Auftreten von Park Jimin erschüttert wurde. Zumindest fühlt es sich an wie ein Beben.

Er ist gerade unter Wasser, deswegen ist die Lautstärke in seinem Kopf angenehm gedämmt und er kann sich fokussiert auf seine Aufregung konzentrieren. Ein paar Beleuchtungen innerhalb des großen Beckens sind ausgefallen und müssen getauscht werden. Außerdem hat Yoongi Futter dabei, um die verbleibenden Besucher ein bisschen extra zu unterhalten. Er schwimmt über den Glastunnel und winkt den Gästen zu, die ihn dabei beobachten. Ihre Gesichter sind dem Angestellten nicht bekannt. Die meisten davon sind wahrscheinlich Touristen, lediglich auf der Durchreise. Mit dem Futter lockt Yoongi viele Fische nah an die großen Glasscheiben heran und schwimmt dann selbst schnell außer Sichtweise, damit von den Besuchern besonders großartige Fotos von der Artenvielfalt des Aquariums geschossen werden können. Viele Leute wollen den Dienst des Tauchers in Anspruch nehmen und posieren daraufhin in den unterschiedlichsten Stellungen im Innenraum des Tunnels. Die Fische lassen sich von dem Blitzlichtgewitter nicht stören, sondern kümmern sich lediglich um ihre eigene Nahrungsaufnahme. Wenn Yoongi nicht arbeiten müsste, hätte er genauso viel Desinteresse wie die Fische für dieses Verhalten übrig. Er findet es seltsam. Aber gute Fotos seien gut für das Geschäft, hat ihm sein Chef erläutert. Die werden dann auf den sozialen Netzwerken mit allen Freunden und entfernten Bekannten geteilt. Bessere Werbung gebe es nicht und diese sei auch noch kostenlos.
Also spielt Yoongi eine Weile mit. Schwimmt vor die Glasscheiben, lockt die Fische mit der nächsten Ladung Futter an und verschwindet dann schnell wieder. Dann wirken die Fotos natürlicher, wurde ihm gesagt. Ihm soll es Recht sein, er findet ohnehin nicht, dass er ein besonders gutes Motiv darstellt. Jimin hingegen, getaucht in rotes Licht der untergehenden Sonne, das hätte fotografiert werden müssen. Oder Jimin, wie seine Lippen angestrahlt von der kühlen Beleuchtung des Aquariums in blauen Wellen schimmern. Auch das hätte fotografiert werden müssen. Und nicht diese gestellten Besucherfotos, an denen absolut nichts Natürlich wirkt, egal wie krampfhaft sie sich darum bemühen. Vielleicht sollte Yoongi selbst ein paar Werbebilder für das Aquarium machen. Von Jimin. Und von blauroten, vollen Lippen und einem schiefen Schneidezahn.
Schließlich unterbricht er die Bespaßung der Besucher, um seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen und die defekten Lichter zu reparieren. Zufrieden bemerkt Yoongi, dass die ersten Gäste bereits ihr Handy gezückt haben und dabei sind einen neuen Post auf Instagram oder sonstigen sozialen Medien zu verfassen. Sein Chef wird zufrieden sein, wenn er die neuen Bilder bemerkt. Er freut sich immer über kostenlose Werbung. Dann lächelt er so einnehmend, dass sein Mund ungefähr 80% seines Gesichtes ausmacht. In den Momenten versteht Yoongi, dass er von den meisten Angestellten J-Hope genannt wird. Für ihn wird er aber wohl immer Mr. Jung bleiben. Mr. Jung verabschiedet sich von Yoongi, wenn er das Aquarium verlässt.
Der Taucher muss sich jetzt ein wenig beeilen. Er hat getrödelt und möchte Jimin nicht verpassen, sollte er tatsächlich heute Abend hier sein. In dem großen Becken ist er weit entfernt von den Leuchtquallen. Dabei weiß Yoongi gar nicht, ob Jimin jeden Abend an dem gleichen Platz sitzt.
Die Lampen sind schnell gewechselt und er fühlt sich fast ein bisschen wehmütig, als er das Becken wieder verlassen muss. Die Lautstärke seiner Gedanken nimmt in dem Moment wieder zu, als er mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchbricht und Yoongi seufzt. Er müsste sich schon lange daran gewöhnt haben, aber im allerersten Moment fühlt es sich immer wieder aufs Neue befremdlich an. Also würden die Gedanken gar nicht alle ihm selbst gehören, eine fremde Achterbahn in seinem Kopf fahren. Im zweiten Moment wird es dann besser. Lautstark, aber immerhin vertraut.
Das Umziehen geht flott. Yoongi verzichtet darauf, jetzt noch in seine Arbeitsklamotten zu steigen, sondern schlüpft sofort in seine Freizeitkleidung. Er hat sich heute Mittag fünfmal umgezogen, bevor er an die Arbeit gegangen ist, weil er sich gefragt hat, was Jimin an ihm gefallen könnte. Schlussendlich hat er sich für sein weißes Rolling Stones Shirt und eine schwarze Jeans entschieden. Nur eine Antwort auf seine Frage, die hat er nicht gefunden.
„Schließt du heute ab?", fragt ihn eine Kollegin, die in der Cafeteria arbeitet und schon ihre Handtasche aufbruchsbereit in der Hand hält. Es ist kurz nach neun Uhr. Yoongi war wirklich lange unter Wasser.
„Klar", antwortet er kurzangebunden. Hoffentlich wurde Jimin nicht von einem der anderen Angestellten bereits nach draußen gebracht, weil die offiziellen Öffnungszeiten vorbei sein.
„Super, vielen Dank. Ich bin dann weg. Bis morgen", erwidert seine Kollegin.
Yoongi hebt die Hand zum Gruß und beugt sich nach unten, um in seine Sneaker zu schlüpfen.
„Achso und dein Freund wartet vor dem Aquarium mit den Quallen auf dich. Ich hab ihn drauf aufmerksam gemacht, dass wir jetzt schließen, aber er meinte, dass er auf dich wartet. Hab ihn also drin gelassen", dreht sie sich kurz vor der Tür noch einmal zu dem minthaarigen Jungen um.
„Okay", sagt Yoongi, nur für den winzigen Hauch einer Sekunde irritiert, dann plötzlich aufgeregt. Sein Freund vor den Leuchtquallen. Jimin ist also tatsächlich hier. Und er muss ihn gesehen haben, als er im großen Becken tauchen war, sonst wüsste er nicht, dass Yoongi heute Abend arbeitet. Vielleicht hätte er doch ein anderes T-Shirt anziehen sollen. Wie gut ist eigentlich die Qualität seiner Handykamera? Heute wird er nach seiner Handynummer fragen. Tell me ist Yoongis Lieblingslied von den Rolling Stones. Nach der Arbeit hat noch nie jemand auf ihn gewartet. Können blaue Wellen auf vollen Lippen einfangen werden? Vielleicht sollten sie zusammen tauchen gehen. Damit die Loopings in seinem Kopf aufhören. Vielleicht könnte Jimin auch wieder etwas für ihn singen.
Er ist so abgelenkt, dass er weder bemerkt, wie seine Kollegin die Umkleidekabine endgültig verlässt, noch, dass er seine Schuhe bereits vollständig angezogen hat. Okay, Konzentration. Oder zumindest der Versuch, sich zu konzentrieren. Yoongi greift nach seinem Schlüssel, Handy und Portemonnaie, steckt alles in die Hosentaschen. Heute wird er nach seiner Handynummer fragen. Unbedingt. Dann beeilt er sich, damit der Straßenmusiker nicht noch länger auf ihn warten muss.
Es ist fast wie ein Déjà-vu, als er auf den schwarzhaarigen Jungen zugeht, der weichgezeichnet vor dem Aquarium mit den Leuchtquallen sitzt und in seine unsauberen Notizen vertieft ist, so konzentriert, dass er den Neuankömmling gar nicht bemerkt. Yoongi hält an, um ihn noch einen Moment lang ungestört zu betrachten. Es ist ein friedvolles Bild. Und Yoongi wird plötzlich klar, dass Park Jimin keine Welten erschüttert. Er biegt sie wieder gerade.
„Hey", sagt er letztendlich, ganz leise und vorsichtig, beißt sich fest auf die Lippe, damit ihm nicht wieder ein unangemessener Kommentar entweicht. Beinah hätte er Jimin gefragt, ob er ihn fotografieren darf. Dabei hatte Yoongi wirklich überhaupt gar keine Ahnung vom Fotografieren.
Jimin blickt sofort auf und lächelt so offenherzig und irgendwie erleichtert, als hätte er schon viel länger auf ihn gewartet, als nur die restlichen paar Minuten. Als er beginnt zu sprechen, ist seine Stimme so sanft und zäh wie Honig: „Hallo Yoongi. Ich hoffe es ist okay, dass ich hier bin und dich von deinem Feierabend abhalte. Ich war noch nicht fertig mit Lernen, als deine Kollegin mir gesagt hat, dass ich die offiziellen Öffnungszeiten schon wieder verpasst hab. Aber ich hab gesehen, dass du heute arbeitest und deswegen hab ich gesagt, dass ich ein Freund von dir bin und auf dich warte. Hab kurz überlegt, ob ich auch so ein Fisch-Selfie von mir machen soll, als ich erkannt hab, dass du der Taucher bist, hab mich dann aber doch dagegen entschieden. Du sahst irgendwie nicht so aus, als würde dir das richtig Spaß machen und ich wollte dich nicht noch länger quälen. Das Aquarium ist übrigens echt toll, wenn wirklich niemand mehr hier ist. Noch toller als ohnehin schon. Ich liebe die Atmosphäre, die dunklen, stillen Gänge, die ganz unbewegt irgendwie doch durch das Wasser bewegt werden. Es ist auch ein bisschen gruselig, aber trotzdem wunderschön." Er sieht aus, als würde er eigentlich noch weiterreden wollen, stockt aber kurz, scheint zu überlegen und verstummt dann endgültig. Yoongi nutzt die Chance, um näher auf ihn zuzugehen und sich auf den Platz neben ihn sinken zu lassen. Die Bank ist groß genug, dass er mit einigem Abstand zu Jimin Platz nehmen kann und er lässt sich Zeit mit seiner Antwort. Der Straßenmusiker betrachtet ihn neugierig, aber wartet geduldig. Seine Blicke sind Yoongi nicht unangenehm. Sie drängen ihn nicht.

Unter Wasser hören wir einander mit dem HerzenWhere stories live. Discover now