Kapitel 4.1

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Als ich am nächsten Morgen aufwache, umhüllt mich immer noch, der mir so bekannte Duft Alexanders. Auf meinen Lippen liegt ein glückliches Lächeln, bis mir bewusst wird, dass er nicht neben mir liegt. Sofort erfasst mich wieder diese schmerzende Leere und ich richte mich auf. Alexanders Pullover presse ich fest an meinen Körper und inhaliere ein letztes Mal seinen trostspendenden Geruch. Anschließend schließe ich meine Augen, atme einmal tief ein und versuche meine Gefühle in die hinterste Ecke meines Bewusstseins zu drängen. Schnell verlasse ich das Zimmer, schließe die Türe zu und lege den Schlüssel auf einen meiner hohen Schränke, damit ich ihn nicht ständig im Auge habe. Grob reiße ich mir im Badezimmer die Kleidung vom Leib, stopfe sie in die Waschmaschine und versuche, mir unter der Dusche seinen Geruch von der Haut zu schrubben. Leider kann ich mit dieser Dusche nicht einfach auch meine Erinnerungen und meine Gefühle in den Abfluss spülen. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass alles, was zwischen mir und Alex passiert ist nun ein Teil meiner Vergangenheit ist. Ich werde nie wieder in seinen Armen liegen können. Ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Magen aus und plötzlich muss ich mich übergeben. Einige Minuten würge ich trocken und lehne meinen Kopf anschließend erschöpft gegen die Kacheln der Dusche. Vermutlich ist es der Nervosität und dem Gefühlschaos zu verschulden, dass mein Magen derartig rebelliert. Nachdem ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe, steige ich aus der Dusche und putzte mir die Zähne.

Nachdem ich mir eine lockere Hose und einen bequemen Pullover übergestreift habe, föhne ich meine Haare und binde sie anschließend zu einem unordentlichen Dutt zusammen. Schnell schnappe ich mir meine Schlüssel und mein Handy und laufe eilig die Treppen hinab. Galant steige ich in meinen Wagen und fahre zu dem Ort, den ich seit über einem halben Jahr gemieden habe.

Das letzte Mal, als ich hier gestanden habe, war ihr Geburtstag. Sie wäre 23 geworden. Seit ihrer Beerdigung war ich jeden Tag hier. Egal ob ein frostiger Wintermorgen oder ein lauer Augustabend. Jeden Tag kam ich hierher und habe Chloe ihre Lieblingsblumen mitgebracht. Rote Rosen. Drei ganze Jahre. 1461 Tage. Bis ich mir geschworen habe, herauszufinden, warum meine Schwester sich umgebracht hat. Ich wusste, dass es etwas Schreckliches sein musste und habe mich davor gefürchtet, dass ich ihr, sobald ich die Wahrheit kenne, nicht mehr gegenüber treten könnte. Doch nun stehe ich wieder vor ihrem Grab und starre auf die Buchstaben, bis sie vor meinen Augen verschwimmen. Langsam gehe ich in die Hocke, lege den Strauß Rosen ab und fahre behutsam die Buchstaben und Zahlen nach, die auf den Grabstein eingraviert wurden.

Chloe Wayne.

09.02.1996-26.06.2016

Ein Schluchzen entkommt mir, als ich die Worte lese, und meine zitternden Beine geben unter mir nach, weshalb ich unsanft ins Gras falle. Das ist er. Das ist er wieder. Diese Moment, vor dem ich mich immer fürchte, wenn ich daran denke ihr Grab zu besuchen. Ich war seit Monaten nicht mehr hier, weil ich das letzte mal zusammengebrochen bin, bis eine alte Dame, die das Grab ihres verstorbenen Mannes beuchen wollte, einen Krankenwagen angerufen hat. Seitdem habe ich diesen Ort gemieden, weil er alles zu real macht, aber dennoch bin ich hier. Ich konnte nicht einfach so weiter machen wie bisher. Nicht an ihrem Todestag. 

Weinend breche ich zusammen und vergrabe meinen Kopf zwischen meinen Händen. Mein Körper wird von vielen Schluchzern geschüttelt und meine Tränen versiegen erst nach einer gefühlten Ewigkeit. Dennoch spüre ich, wie jede Träne mein Herz ein Stück erleichtert.

»Es ist das erste Mal, dass ich vor deinem Grab stehe und nicht vergeblich auf Antworten auf meine Fragen warte.«

Ich hole zittrig Luft und wische mir die letzten Spuren meiner Tränen mit meinem Handrücken weg.

»Nun weiß ich endlich, was passiert ist und ... Ich glaube, es war eine gute Entscheidung. Ich kann es verstehen und nachvollziehen, aber dennoch kann ich es dir nicht wirklich verzeihen! Vielleicht konntest du es in deiner Situation nicht sehen, aber das Leben geht weiter! Es gibt ein noch ein Leben nach alldem. Ich habe mich von Alexander getrennt und mein Leben geht trotzdem weiter! Selbstmord ist keine Lösung! Es ist feige und unfair! Dein Schmerz mag vielleicht ertragbar sein, aber dafür hast du ihn nun an mich abgegeben! Du hast mich allein gelassen! Du machst einfach weiter! Ohne mich!«

Wütend schlage ich mit meiner Faust auf den Grabstein, bis meine Hände vor Schmerz pochen. Obwohl ich die Antwort kenne, fühlt sie die Antwort auf das "Warum?" so unfassbar unbefriedigend an. Als Alexander noch an meiner Seite war, da haben die positiven Gefühle für ihn meine negativen Empfindungen übertüncht, aber jetzt stürzt alles über mir ein. Die ganze Zeit kann ich an keinen anderen denken und vermisse ihn so sehr, dass es mich von innen heraus auffrisst. Ich habe keine andere Wahl, wenn ich ihn glücklich sehen will. Nun ist er nicht bei mir, obwohl ich ihn brauche, aber dennoch kann ich seine Stimme hören, wie sie mir zuflüstert, dass alles gut wird und dass er immer bei mir bleiben wird. Diesmal kann ich solange warten, wie ich will. Er wird nicht zu mir kommen, um mich zu trösten. Aber zumindest habe ich die Erinnerung an ihn. Eigentlich wollte ich ihn vergessen, aber genau in solchen Momenten, in denen ich mich einsam und verloren fühle, sind es nur noch meine Erinnerungen an ihn, die mich stärken. Ich habe es versucht, aber bereits nach dieser kuren Zeit weiß ich, dass es keine Möglichkeit gibt sie zu vergessen. Seit unserer Trennung ist es mir nicht gelungen, ihn zu vergessen. Er ist der Einzige, bei dem ich jemals so empfunden habe. Es ist so schwer zu beschreiben, was ich für Alex empfinde, denn manchmal habe ich das Gefühl, dass es so viel mehr als Liebe ist. Einzig und allein mein Stolz ist schuld daran, dass ich ihm nie meine wahren Gefühle gebeichtet habe. Liebe macht schwach und verletzlich. Wer liebt, lässt sich von seinen Gefühlen leiten und trifft viele falsche Entscheidungen. Ich wollte eine lange Zeit lang nicht verstehen, warum nur Alexander all diese Dinge in mir auslösen kann. Aber mittlerweile kann ich es einfach nicht mehr leugnen. Lange wollte ich mir einreden, dass das was ich empfinde, Dankbarkeit oder Abhängigkeit ist, aber ich kann mich nicht länge selbst belügen. Ich würde alles für ihn tun und dieses Gefühl übersteigt reine Dankbarkeit um Längen. Ich liebe ihn bedingungslos und das ist es, was mir eine unfassbare Angst einjagt. Alle Menschen sehnen sich nach einer solchen Liebe, aber ich habe nie an die Liebe geglaubt. Die meisten Menschen sind viel zu egoistisch, um einen anderen Menschen wirklich zu lieben.

Chloe hatte immer eine sehr genaue Vorstellung von ihrem Partner und von der Liebe. Vermutlich ist das auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sie jeden Liebesroman förmlich verschlungen hat. Egal ob Sturmhöhe, Stolz und Vorurteil oder Twilight. Ein Mensch, der einem in guten und in schlechten Zeiten beisteht, Trost spendet und eine starke Leidenschaft entfacht. An ihren Wänden standen Zitate aus berühmten Liebesromanen, sodass nur ein Blick in ihr Zimmer ausreichte, um zu wissen, dass ihr Partner ziemlich romantisch sein sollte.

🌟?

Dark Truth - Bittersüße Versuchung (Abgeschlossen)Where stories live. Discover now