Kapitel 1 - Ein ganz normaler Tag ?

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Müde rieb ich mir die Augen. Ich hatte gestern definitiv zu lange gezeichnet und war nur sehr wiederwillig aus meinem Bett gekrochen. Gleich danach hatte ich das Heft, das auf meinem Kopfkissen liegen geblieben war wieder sicher in der geheimen Kiste unter meinem Bett verstaut. Würde irgendjemand jemals erfahren, was sich darin befand, würde ich vermutlich einen Kopf kürzer gemacht.

Als ich wenige Minuten später im Gemeinschaftsbad stand, blickte mir aus dem Spiegel ein Mädchen mit rotbraunem Haar, rehänlichen braunen Augen und blasser Haut entgegen und ich musste mich wieder einmal versichern, dass dieses Mädchen wirklich ich war.

Ich nahm meine Zahnbürste in die Hand und lies Wasser auf diese laufen. Die andere Hand glitt zu meinem rechten Ohr, wo ich mir eine meiner vielen Locken aus dem Gesicht strich, denn diese Haare hatten die Form eines Afro, weswegen irgendeine Strähne es immer schaffte, sich aus meiner Frisur zu lösen. Wirklich IMMER.

Nachdem ich im Bad fertig war lief ich zurück in das Zimmer (MEIN wäre hier unpassend da ich es mir ja mit 9 anderen Mädchen teilte), zog mich um und nahm meine Tasche. Zur Schule wurden wir mit einem speziellen Bus abgeholt, da ja eigentlich alle aus dem Heim dort hinmussten.

Dort angekommen erwartete mich schon ein breites Grinsen von meiner Lynette. Der Name bedeutet „kleine Schönheit", was relativ passend war. Sie war klein. Und wunderschön. Ihre dunkelbraunen, schulterlangen, welligen Haare umschmiegten ihr Gesicht wie ein Rahmen aus Zedernholz ein Gemälde und die olivfarbenen Augen leuchteten aus ihren ebenmäßigen Gesicht heraus wie Sterne aus der Nachtschwärze. Ja, ja ich mag sie. Und? Was soll's? Ich weiß das und akzeptiere es und sie auch. Da kann es mir eigentlich egal sein, ob es dem Rest der Welt gefällt, oder nicht. Ich bin lesbisch und sie poly und das ist gut so. (Wenn ihr nicht wisst was das heißt, lest nach...ach ja und ich meine polysexuell, nicht polyamoureus!)

Hand in Hand liefen wir die Flure entlang, bis wir zu unseren Spinden kamen. NATÜRLICH hatten wir darauf bestanden, dass diese nebeneinander lagen und da wir jeden Unterricht zusammen besuchten, hatten wir das auch tatsächlich durchgekriegt. Heute standen zwei Stunden Englisch, eine Stunde Kunst (Die Lehrerin zumindest mochte mich), eine Geographieeinheit und zum nervigen Schluss eine Doppelstunde Mathe. Blöder Stundenplan eigentlich. Aber immerhin mit Lynette. In Anbetracht dieser Tatsache- dass sie bei mir war- konnte ich sogar darüber hinwegsehen, dass- schon wieder- irgendjemand HEXE! auf die Tür meines Spindes geschrieben hatte (Das ist wohl Programm, wenn man Rothaarig UND lesbisch ist). Naja, zumindest fast.

Als ihr Bus vorfuhr, drückte meine Freundin mich an sich, wuschelte mir durch die Haare, meinte: „Dann bis morgen, Ademia-Wuschelkopf", und verschwand in der Menschenmenge. Wuschelkopf? Ernsthaft?

Nach einer Weile wurde auch ich abgeholt. Nicht, dass ich etwas dagegen gehabt hätte, nicht laufen zu müssen, aber trotzdem trieb es mich jedes Mal fast in den Wahnsinn, wie voll die Busse waren. Bis heute kann ich nicht nachvollziehen, warum das so ist und sie nicht einfach mehr Fahrzeuge zur Verfügung stellen. Ich meine: Hat irgendein Wesen dieser Welt Interesse daran, mit wildfremden dicht gedrängt auf viel zu engem Raum gequetscht zu stehen? Ich auch nicht!

Umso erleichterter war ich, als wir ankamen und ich aussteigen konnte. Das Erste, was ich, zurück in meinem Zimmer, tat, waren meine Hausaufgaben. Nicht gerade spannend, ich weiß, aber was will man machen?

Gleich danach eilte ich mit Stift und Skizzenblock in den Garten, um ein weiteres Mal zu versuchen, den alten Kirschblütenbaum zu zeichnen. Denn, so oft ich es auch versucht hatte, es wollte mir nicht gelingen. Überhaupt gab es keine einzige Abbildung, auf der der Baum deutlich zu sehen gewesen wäre und das obwohl die Fotos der Jahrgänge stets vor ihm gemacht wurden.

Als ich so dasaß, immer bereit, Block und Stift nötigenfalls in meiner Umhängetasche zu verbergen, bemerkte ich plötzlich ein leichtes Schimmern in einem der Astlöcher. Neugierig lief ich zu dem Kirschblütenbaum, sah mich hektisch um und kletterte dann, als keiner hinsah, hinauf.

Behutsam setzte ich den linken Fuß noch einen Ast höher, um mit meiner Hand die Öffnung zu erreichen. Ich streckte und reckte mich und griff in das Astloch...

Eine Sekunde lang war es mir, als spürte ich eine andere, tastende Hand, als sähe ich ein Gesicht vor mir, genauso überrascht wie das meinige. Dann begann ich zu fallen.

Noch ehe mir wirklich bewusst geworden war, was geschah, noch ehe ich die Strudel aus Licht und Schatten, in die ich gestürzt war, aus meinem Kopf verbannt hatte und noch ehe ich auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, landete ich hart auf dem Boden. Doch eigentlich war es gar kein harter Boden, sondern das hohe, weiche Gras, das um den alten Baum sprießte, von dem ich gerade gefallen war. Langsam kehrte mein Bewusstsein zu mir zurück und doch wagte ich es nicht, die Augen zu öffnen. Vorsichtig tastete ich mich an dem rauen Baumstamm entlang nach oben, bis ich mit dem Rücken an ihn gelehnt, auf meinen Füßen stand.

Während ich noch versuchte, mich zu sammeln, knallte mir ein kleiner Vogel gegen den Kopf. Langsam tastete ich nach der Stelle und klaubte mir das Tier aus den Haaren. Warum zur Hölle sind Vögel blind genug, um gegen Menschen zu fliegen? dachte ich noch, während ich die Augen öffnete, um das kleine Wesen anzusehen. Ich blinzelte und unterdrückte gerade noch einen spitzen Schrei.

Es...war kein Vogel.

Der Kirschblütenbaum - Die vier SäulenWhere stories live. Discover now