Kapitel 10 *

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Man darf nie an die ganze Straße denken, verstehst du?" fragt er die kleine Momo einmal. „Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. (...) Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.

-Beppo Straßenkehrer zu Momo-

-Zitat aus dem Buch Momo von Michael Ende-

Wir bewegten uns langsam seitwärts über die Balken

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Wir bewegten uns langsam seitwärts über die Balken. Auch wenn unsere Hände sich in sich verhakt hatte, war die Aufgabe hier nicht einfach.

Das Wasser, was sich unter uns befand, verdunstete und lies einen kühlen Zug durch die Glieder fahren. Tropfen, die sich an der Decke gebildet hatten, fielen von dort wieder in die Tiefe und ließen ein eigenes Musikstück erklingen.

Die Anzüge hielten zwar die Wärme gespeichert, doch an den unbedeckten Stellen des Körpers begann es kühler zu werden und ich verlor fast jegliches Gefühl in den Fingern.

Ein weiteres Mal bewegten wir uns zügig voran. Die Balken waren nun feuchter und damit rutschiger. Unsere Sportschuhe quietschten leise auf den Balken, wenn wir unsere Füße bewegten.

Wir versuchten gerade unser Gleichgewicht zu halten, da rutschte ein Bein von Charles ab. Reflexartig packte ich ihn, damit wir nicht in die Tiefe stürzten.

„Halt ... mich ... fest", flehte er mich an, während sein Oberkörper nach vorne gebeugt in der Luft hing. Mit aller Kraft versuchte ich Charles wieder aus der unglücklichen Lage herauszuholen. Sein ganzes Gewicht ruhte nun auf meinen Armen, die langsam anfingen zu zittern. Bei diesem Unterfangen musste ich aufpassen, dass auch ich nicht kippen würde. Als sein Bein endlich wieder in der richtigen Position war, atmete ich erst einmal den verbrauchten Sauerstoff aus. Bedächtig nahm ich war, wie schnell sich mein Brustkorb sich bewegte. Mir wahr gar nicht klar, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.

„Danke ... Jetzt hast du mir etwas zurückgegeben", antwortete er völlig außer Atem. Sein Gesicht wirkte blass und jede Form von einem Lächeln war aus seinem Gesicht geschrieben. So standen wir nur da und versuchten wieder etwas Energie aus dem Nichts zu schöpfen.

„Wir müssen jetzt darüber kommen. Ansonsten sind wir nicht schnell genug beim roten Knopf. Dann haben wir beide uns eine Pause verdient." Unsere Bewegungen wurden schneller, doch kurz darauf verlor ich das Gleichgewicht. So verloren wir Minuten, bis ich wieder in Position war.

„Wie kommen wir da jetzt hinüber?", fragte er mich. In seiner Stimme lag etwas Nervöses und Unsicheres. Sein eisiger Blick war auf das Ende der Balken gerichtet.

„Diese Strecke ist viel zu weit weg. Eigentlich dachte ich, es wäre leichter. Aber so wie es aussieht, schaffen wir es nicht."

Ich habe ihn noch nie so niedergeschlagen gesehen. Etwas hatte sich in ihm verändert, denn die ganze Zeit war er die Hoffnung für mich gewesen. Was eine lebensrettende Blume für einen Schmetterling war, so klammerte ich mich an ihn fest. Doch dieses Mal war es anders, denn dieses Mal schien all seine Zuversicht zu zerbröckeln, wie eine verwitterte Burgruine mit der Zeit.

So vergingen ungezählte Minuten, indem wir nur da standen, und versuchten nicht in die Tiefe zu fallen.

„Schau mich einfach an."

Sein Blick ging langsam nach oben. Diese Augen waren eiskalt. Weiße Wangen schmückten sein Gesicht.

Warum sage ich so etwas? Was denke ich mir bei dieser Aussage? Ich habe doch auch keine Idee und ich vertraue nun auf die Weisheit eines Kinderbuches. Werde ich etwa nun verrückt? Andererseits haben meine Bedenken, dass wir eventuell die Bösewichte in dieser Geschichte sind, dadurch seine Richtigkeit. Die Bösen versuchen immer alles um ihre Ziele zu erreichen, egal wie verrückt die Idee auch zu sein scheint. Unser Ziel ist die andere Seite zu erreichen. Was denke ich da nun schon wieder?

Sein Blick war immer noch auf mich gerichtet. Ein leichter Seufzer von mir ließ die Stille zwischen uns beiden vorübergehen.

„Ich habe nachgedacht. Mein Vater hat mir einmal ein Buch vorgelesen, als ich noch klein war. In diesem Buch gibt es einen Straßenkehrer namens Beppo. Dieser erklärt einem Mädchen, wie man eine lange Straße sauber macht."

„Wir müssen uns jetzt wieder auf den Weg machen. Ansonsten schaffen wir es nicht mehr", versuchte Hänsel mich aufzuscheuchen. Doch ich blieb einfach wie ein Fels in der Brandung stehen.

Er schien kein Verständnis für meine Aussage zu haben. „Nein. Wir müssen jetzt richtig handeln, ansonsten werden wir nur wertvolle Zeit und Kraft verlieren", erklärte ich ihm während ich immer noch Augenkontakt mit ihm hielt.

„Das meine ich doch. Wir müssen uns beeilen", seine Aussage war immer noch dieselbe wie davor. Er verstand es anscheinend nicht so richtig.

„Wir dürfen nicht an die ganze Straße denken. Immer nur an den nächsten Schritt", versuchte ich ihm meine Gedanken zu erklären. Meine Hand nahm seine etwas fester in den Griff.

„Schau mir weiter in die Augen und sprich mir einfach nach."

-Schritt-

Ich hob mein Bein etwas zur Seite. Er tat es mir gleich. So hatten wir einen kleinen Weg in die richtige Richtung getan.

-Atemzug-

Meine Lunge füllte sich mit Luft. Ich hielt den Atemzug ganz kurz und atmete ihn wieder aus. Es fühlte sich etwas erleichternd an.

-Gleichgewicht halten-

Wir stellten uns wieder richtig hin, sodass wir unseren nächsten Schritt machen konnten. Das ganze wiederholten wir immer wieder: Schritt; Atemzug; Gleichgewicht halten; Schritt; Atemzug; Gleichgewicht halten; Schritt; ...

Wir erreichten das Ende der Balken. Charles sprintete sofort zum roten Knopf. Als die Zeit gestoppt wurde, öffnete sich am Ende des Raumes eine Tür.

„Piep. Bitte geht dort hindurch. Ihr werdet im Salon eure Pause verweilen", sprach die Stimme von oben.

Ein Gefühl der Erleichterung und des Glücks ging durch meinen Körper. Charles setzte sich sogar an den Abgrund, während ich mich einfach hinstellte. Unsere Blicke schauten in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

Die unüberwindbare Schlucht haben wir also überwunden. Wir können beide definitiv stolz auf diese Leistung sein und es fühlte sich so an, als ob wir beide uns noch mehr verstanden hätten. Wir waren wirklich ein gutes Team.

Langsam schmerzten bei mir die Muskeln, als ob sie in Flammen standen. Die Erschöpfung machte sich so im Körper breit. Meinem Bruder schien es nicht anders zu gehen. Mit seinen nassen Händen rieb er sich den kalten Schweiß von den Oberschenkeln ab.

„Wollen wir uns nun auf den Weg machen?", fragte ich ihn. Er stieg langsam auf und ging auf mich zu.

„Ich wäre für eine wohl verdiente Pause. Aber Sam, darf ich dir noch was sagen?", fragte er, wobei wir beide immer noch die Balken beobachteten.

„Was denn?", meine Stimme war etwas leise, da meine Kehle trocken vor Durst war.

„Du bist!", seine Hand berührte mich und er rannte auf die Tür zu. Ich lief ihm so schnell, ich konnte hinterher.

Gefangen im Märchendorf - wird überarbeitet-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt