9. Türchen

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 Flowers 'n'Tatt's

„Hast du schon gesehen? Da ist ein neuer Laden." - „Aha." desinteressiert ignoriert der junge Mann seinen Kollegen mehr oder wenig. „Louis ernsthaft, tu doch wenigstens so, als würde es dich interessieren." - „Liam, ernsthaft, solange es keine Konkurrenz ist, ist es mir egal." erwidert er konzentriert über die Blaupause gelehnt.

Liam rollt mit den Augen und räumt noch einiges auf. Louis ist immer noch voll in seinem Element. Er werkelt schon den ganzen Vormittag an dem Entwurf herum, bisher nur auf seinem Tablett, dass er immer zum Zeichnen benutzt, aber jetzt wird das ganze auf Blaupause übertragen. Das Motiv stand gestern schließlich fest und er hat dem Kunden bereits ein Foto geschickt. Er ist höchst zufrieden und kommt in zwanzig Minuten her.

Sie schmeißen den Laden jetzt seit guten fünf Jahren und es läuft gut, sehr sogar. Es war ursprünglich ein Gedanke von zwei Betrunkenen, aber so läuft das Leben eben manchmal. Liam hat seiner Exfreundin vor knapp zehn Jahren ihre Ohrlöcher gestochen und Louis hat schon immer gerne gezeichnet. Jetzt haben die zwei ein Tattoo- und Piercingstudio und man würde lügen, wenn man behaupten würde, sie wären schlecht in ihrem Job. Das sind sie ganz und gar nicht.

Eine junge Frau lässt sich gleich Tattoo stechen; eine Wanderdrossel auf einem Ast und einem kleinen A darunter. Es wird ein schwarz-weißes Bild und vielleicht zwei Stunden dauern, bis es fertig ist, plus minus. Je nachdem, wie gut ihre Haut mitmacht.

Louis ist noch nicht ganz fertig, als die Frau das Studio betritt und von Liam empfangen wird. Er führt sie in einen der zwei Räume im hinteren Bereich des Studios. Während Louis noch einige Linien nachzieht, rasiert Liam die Innenseite ihres Oberarms aalglatt. Dort soll das Tattoo platziert werden. Louis nickt ihm dankend zu und wendet sich zu seiner Kundin.

„Sie sind zufrieden mit dem Motiv und der Stelle?" fragt er nach und sie nickt lächelnd. „Absolut!" bestätigt sie und Louis bittet sie, sich hinzulegen und den Arm auszustrecken. Mit dem Stuhl rollt er zu ihr, desinfiziert sich die Hände, ihren Arm und zieht sich Handschuhe an, bevor er die Blaupause anbringt.

Sie sieht auf das Motiv und nickt noch einmal. Dann hört man ein monotones Surren und er setzt die erste Nadel an. Er hat es sich selbst beigebracht, Jahrelang hat er geübt. Angefangen hat er mit Bananen, aus dem einfachen Grund, dass wenn man sie anschließend nicht mehr Essen kann, er weiß, dass er zu tief gestochen hat. Dann hat er beim Metzger in der Nähe nachgefragt und durfte die Schweinehaut verwenden, die ansonsten weggeworfen worden wäre.

Liam hat ebenfalls viel geübt, lange und inzwischen kann er es verdammt gut. Beide wissen, was sie tun und auch, wenn Louis' Mum es liebt gehabt hätte, ihren Sohn auf der Uni zu sehen, weiß sie doch, dass er glücklich ist, mit dem, was er tut. Vor fünf Jahren haben sie dann einen Kredit aufgenommen und das Studio gebucht. Am Anfang lief es recht holprig, aber dann hat es doch geklappt. Ein Jahr später haben sie ihr Hygienezertifikat bekommen und sie bereuen es bis heute nicht, das Risiko, sich Selbstständig zu machen, eingegangen zu sein.

Louis ist voll in seinem Element. Gezielt zieht er Linien unter die Haut, Schattierungen und Striche. Die Stelle ist nicht angenehm, das weiß er, aber es gibt schlimmeres. Wirklich unangenehm ist es auf der Hand, weil zwischen Knochen und Haut so gut wie kein Gewebe mehr ist. Das tut richtig weh.

Seine Kundin kommt gut mit dem Schmerz klar und ihre Haut spielt auch mit. Nach knapp zwei Stunden ist es dann fertig und Louis versorgt das fertige Tattoo, ehe er es in Folie einwickelt. Sie setzt sich wieder auf und sieht es sich im Spiegel an. „Es ist so schön!" sagt sie begeistert und sieht Louis grinsend an. Das ist eines der schönsten Dinge an seinem Job; die Freunde der Leute zu sehen, wenn er mit seiner Arbeit fertig ist.

Adventskalender 2019Where stories live. Discover now