» 003

99 12 12
                                    

Dunkelblaue Schmetterlinge

Schwarze Motten aus Angst fressen sich in ihre Porzelanhaut. Große Puppenaugen schauen ins Leere. Purpurnes Blut strömt aus klaffenden Wunden und wild schüttelt sie den Kopf. Ihre zierlichen Gliedmaßen scheinen bei jeder kleinen Bewegung zu zucken und sie hält den Atem an.

Kälte umschließt sie und ihre Venen. Kälte schüttelt ihren Körper.

Der Mond scheint durch das offene Fenster, dessen Scheibe sie bei einem Anfall zerschlagen hat. Das Licht bricht sich auf den Scherben. Hoffnungsvoll.

Sie weiß, dass es nicht echt ist, doch gleichzeitig spürt sie nichts anderes. Da sind nur die Motten, hunderte die sie töten wollen.

Die scharfen Beine und Zähne, die sich gierig in ihr weiches Fleisch bohren. Ein schockierter Schrei ist zu hören, und erst als ihre Kehle brennt, bemerkt sie, dass sie diejenige ist, die diese markerschütternden Laute von sich gibt.

Sie wird nur noch schreien, niemals singen. Ihre wunderschöne Stimme aus Samtträumen bleibt der Menschheit verschlossen hinter Türen der Schwäche. Oh, sie ist so schwach.

Ihre kleinen Hände wandern zu ihrem Mund, um die Schreie zu dämmen, doch sie weiß, dass das nicht helfen wird. Tränen rinnen über ihre zartrosa Wangen, bedecken sie mit Salz. Salzig wie das Leben.

Wird sie heute Nacht erneut von ihm träumen? Von seinen Händen, seinem Gürtel, seinem Keuchen? Oder wird sie wach bleiben? Angst zu schlafen.

Sie darf nicht schlafen. Sie will nicht schlafen.

Sie kann nicht schlafen, ihr Körper tut weh. Jeder einzelne tiefblaue Fleck, der sich von Tag zu Tag verfärbt, jeder rote Striemen, wird sie wach halten. Ihr Körper schmerzt fast so sehr wie ihre Seele.

Es gibt nur eine Lösung, nur ein Mittel um wieder glücklich zu sein. Wie einfach es wäre den Schmerz zu betäuben und in eine Welt einzutauchen, in der die Motten Schmetterlinge sind. Sie müsste nur erneut der grausamen Schwäche nachgeben, neben sich greifen.

Noch immer unsicher blickt sie auf den Steinboden des Kellers, rollt die Spritze mit den Fingerspitzen langsam vor und zurück. Da ist wieder diese Sehnsucht in ihren ozeanblauen Augen, mit der sie die Flüssigkeit betrachtet, vermischt mit einem Hauch von Angst.
Doch zweiteres ist nicht stärker als das Leid, lässt sie nicht inne halten.

Oh du schwaches Kind. Oh du armes Kind.

Mit geschlossenen Lidern greift sie nach der Spritze, sieht sie einen Moment an und sticht sie anschließend fest in die Vene ihrer Armbeuge. Die Spritze stößt durch die verkrustete Haut, Blut spritzt aus der Arterie.

Nur noch Minuten. Ihre letzten Minuten.

Ihr Blick wird schwarz, ihr Kopf leer, sie hört auf zu zittern.

Es ist vorbei und dunkelblaue Schmetterlinge fliegen mit ihr empor in den schillernd blauen Himmel, in dem die Motten sie nicht finden.

EntliebtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt