Jeyong

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Die alten Hallen standen leer und die Gläser in den langen Fenstern waren fast alle kaputt und Scherben lagen verteilt auf den Betonboden. Samten stellte sich an diesem Ort immer vor, das die verlassene Fabrik die Ruine einer Stadt sei und sie war die einsame Wanderin, die durch die leeren Gossen zog und nach etwas essbaren suchte.

Mit einem Stock schlug sie die abgebröckelten roten Bracksteine weg, die ihr im Weg lagen. Eine starke Erdbändigerin war sie in ihrem Spiel. Große und mächtig, mit furchteinflößend riesigen Bizeps. Ein Haus zum Einsturz zu bringen war für sie ein Klacks.

Krachend zerbrach einer der von ihr weg weggeschleuderten Steine ein Fenster. Gruselig hallte das Klirren des Glases durch die leerstehenden Gemäuer. Doch sie, die größte Erdbändigerin, brauchte keine Angst zu haben. Sie machte eine schnelle Bewegung mit ihrer Hand nach oben, angestrengt versuchte sie einen der vor ihr liegenden Steine zu bändigen. Doch er bewegte sich keinen Millimeter. Dann gab sie ihm einen Tritt. Erst als der Schmerz von ihren Zehen bis zu ihrem Kopf schoss, bereute sie es, nicht den Stock benutzt zu haben.

Vorsichtig lehnte sie sich an eine Wand und zog den grauen Turnschuh aus. Ihr Nagel am großen Zeh schien eingerissen und etwas Blut sammelte sich unter ihrem Nagel. Behutsam betastete sie ihn. Abschneiden musste sie ihn nicht, dachte sie, wieder in ihrem Spiel versunken. Doch das umher wandern musste wohl nun etwas langsamer voran gehen, um ihr gebrochenes Bein zu schonen. Mit dem Stock in der Hand humpelte sie weiter.

„Die Nacht bricht bald herein", sagte sie zu sich selbst und schirmte sich die Hand vor der warmen Frühlingssonne ab.

„Sobald die Bullen nicht mehr nach uns suchen, holen wir das Zeug wieder ab." Diese Stimme drang aus einem der zu genagelten Hallen. Diese konnte man nur betreten, wenn man auf das Dach und dort über ein Loch hinein kletterte. Instinktiv drückte sich das Mädchen an die Wand. Zwei Männer seilten sich an vom Dach. Sie trugen schwarze Kleidung und einer hatte sogar eine Ski-mütze auf.

„Diebe", flüsterte Samten und schlang den Stock fester an sich. Bestimmt hatten sie aus einem Banktresor Diamanten und Goldbarren geklaut, dachte sie.Die zwei Gestalten verschwanden nach wenigen Augenblicken um die Ecke.

Neugierig betrachte sie das Seil, das die zwei hinter der rostigen Regenrinne geklemmt hatten. Sollte sie es wagen, nach oben zu klettern? Das Gold könnte ihre Familie gut gebrauchen. Fest entschlossen nahm sie das Seil und sprang daran hoch. Doch ihre Arme waren zu schwach um ihren etwas molligen Körper hoch zu hieven. Nein, dick war sie nicht, doch schlank ebenso wenig und doch etwas mehr als normal. Ihre Mutter sagte dazu dass das Babyfett sei und es sich verwachsen würde, sobald sich größer war. Und ihre Mutter musste das ja wissen.Dann kamen ihre Gedanken zu der seltsamen Begegnung zurück.

Nun, das Seil war keine Idee, also lief sie an der Wand der Halle herum. Irgendwo musste doch ein Loch sein, wo ein kleines Mädchen wie sie reinpassen müsste. Und sie fand es. An einem zugenageltem Fenster fehlte eine Latte. Der Spalt war breit genug für sie zum durchquetschen. Also quetschte sie sich durch.

Es war viel heller, als sie es erwartet hatte.Das durchlöcherte Dach ließ viel Licht hinein und auf dem Boden wuchs dichtes Moos. Sofort fühlte sie sich in eine andere Welt befördert, wo sie wieder Samten, die einzigartige und bärenstarke Erdbändigerin war. Und sie war auf Schatzsuche.

Langsam bahnte sie sich ihren Weg durch Dachziegel und Steinbrocken. Ihr Weg lag klar vor ihr. Etwas schien sie ganz sanft zu sich zu ziehen.

Es fühlte sich nicht fremd an, ganz im Gegenteil. Je weiter sie ging, umso wärmer wurde es in ihrem Bauch. Das musste der Schatz sein, dachte sie. In einer dunklen Ecke, umwickelt mit einem dreckigen Tuch, stand etwas und es lebte.

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⏰ Last updated: Jan 08, 2020 ⏰

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