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*Leyla*
Nachdem ich Raya erklärt hatte, dass ihr Vater und ich uns eigentlich sehr lieb hatten und ich nur deshalb traurig war, weil ich ihn auch sehr vermisste, war sie etwas beruhigter. Mit meiner Tochter  im Arm saß ich noch einige Zeit auf dem Sofa und versuchte sie so gut es ging wieder in den Schlaf zu wiegen. Ihre Nähe in diesem Moment zu spüren, ihren kleinen Körper an mich geschmiegt - das war gerade jetzt unglaublich wichtig für mich. Ich wischte mir mit dem Handrücken eine letzte Träne von der Wange und küsste Raya sanft auf den Scheitel. Sie schlummerte mittlerweile wieder tief und fest und ich beschloss sie wieder in ihr Bett zu bringen. Vorsichtig deckte ich sie dort angekommen zu und strich ihr noch einmal über die Löckchen. Es zerriss mir fast das Herz wenn ich daran dachte, dass ihr unsere Beziehungsprobleme Sorgen bereiteten und sie deshalb Kummer hatte. Es war immer mein Wunsch gewesen, jedes Leid, jeden Schmerz von ihr abzuwenden. Doch nun musste sie meinetwegen so viel durchmachen. Bekam trotz ihres zarten Alters genau mit, wenn ich einen schlechten Tag hatte oder eben, wenn Ben und ich uns mal wieder angifteten. Oh Gott, wieso machte ich nur alles falsch? Würde sie mir das in ein paar Jahren vorwerfen?
Ich wusste es nicht. Das einzige was ich gerade wusste war, dass ich tief unglücklich war. Doch Tränen flossen keine mehr - die waren inzwischen versiegt. Zurück blieb eine unfassbare Leere, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Und immer wieder diese Fragen, die mir unentwegt durch den Kopf geisterten und von denen mir schon ganz schwindlig war.
Ich wusste einfach nicht weiter ohne Ben.
Wo war er jetzt bloß? Was ging in ihm vor?

*Ben*
Schwer atmend stand ich mit meinem Helm unter dem Arm am Rand eines Hügels und blickte in die Nacht. Ganz in der Ferne war ein heller Schein am Horizont zu erkennen. Wahrscheinlich die Lichter Erfurts, die auch nachts niemals erloschen. Das Gewitter hatte mittlerweile nachgelassen und es kamen nur noch einzelne Tropfen vom Himmel. Die Stille, die mich hier in der Natur gerade umhüllte brachte meine rasenden Gedanken nur bedingt zum Schweigen. Wie konnte sich mein Leben nur innerhalb von so kurzer Zeit so sehr ändern? Ich liebte Leyla, sehr sogar! Aber ob sie immernoch genauso für mich empfand konnte ich nicht sagen. Jeden Tag diese Abweisung zu erfahren, keine Zuneigung mehr fühlen zu dürfen - das tat mir so unglaublich weh. Das Schlimmste war aber für mich, dass ich deshalb meine Tochter wohl nicht mehr so oft sehen würde. Meinen kleinen Engel, meinen Sonnenschein. Niemals hätte ich gedacht, dass ich für so ein kleines Menschlein so viel Liebe in mir tragen könnte. Aber genauso war es gekommen. Ich würde für dieses kleine Mädchen einfach alles tun, würde bis ans Ende der Welt gehen... und jetzt? Es brach alles wie ein Kartenhaus über mir zusammen und ich zweifelte sehr an der Entscheidung, die ich vorhin getroffen hatte.
Tief sog ich die kalte Luft in meine Lungen und merkte, dass ich zu Zittern begonnen hatte. Meine Klamotten waren auch komplett durchnässt und hingen schwer an meinem Körper. Ich wusste nicht so genau, wo ich war, aber das war mir eigentlich auch ziemlich egal. Ohne Ziel war ich gerade bestimmt eine Stunde einfach nur durch die Dunkelheit und den Regen gefahren. Um nachzudenken und vielleicht auch um zu versuchen vor allem zu fliehen. Erschöpft lehnte ich mich an einen Baum, neben dem ich mein Motorrad geparkt hatte und sah auf mein Telefon. Es war schon relativ spät, trotzdem beschloss ich Elias anzurufen. Ich wollte heute einfach nicht erneut im Bereitschaftsraum übernachten und brauchte dringend jemanden zum reden. Mein bester Freund war auch der einzige, dem ich meine Sorgen und meine Zweifel bis jetzt anvertraut hatte. Natürlich war es auch heute Abend selbstverständlich für ihn mich aufzunehmen.
Wie dankbar ich ihm dafür war!

*Leyla*
Ich hatte in dieser Nacht kaum ein Auge zugetan. Zu laut waren die Stimmen in meinem Kopf, die Verzweiflung und die Zukunftsängste. Müde blickte ich in den Spiegel über dem Waschbecken. Ja, ich sah genauso aus, wie ich mich fühlte. Erschöpft und blass mit dunklen Schatten unter den Augen. Ich wusch mir das Gesicht und versuchte dann mir jegliche Sorgen wegzuschminken - mit mäßigem Erfolg. Meine Locken bändigte ich zu einem hohen Dutt und zog mich dann fix an, um Raya zu wecken, die noch seelenruhig schlummerte. Heute war Donnerstag, das bedeutete, dass ich Dienst hatte und unsere Tochter den Tag in der KiTa verbringen würde. Sie ging gerne dorthin, auch wenn es sich für mich immer irgendwie anfühlte, als würde ich sie abschieben. Glücklicherweise arbeitete ich zur Zeit nur zweimal die Woche, sodass ich sie an den anderen Tagen zumindest immer mittags zu mir nach Hause holen und den restlichen Tag gemeinsam mit ihr verbringen konnte.
Heute Nachmittag würde sie Elias abholen und sich mit ihr eine schöne Zeit machen. Raya mochte ihren Patenonkel wirklich sehr und erzählte Ben und mir dann abends immer begeistert von seinen leckeren Pancakes oder welche Abenteuer sie gemeinsam auf den Spielplatz erlebt hatten.
Heute hatte ich jedoch ein sehr seltsames Gefühl im Bauch, als ich mit Raya zur Kita fuhr. Schon zuhause hatte ich sie zig mal gefragt, ob es ihr gut ginge und sogar Temperatur gemessen. Aber es war tatsächlich alles im grünen Bereich. Und doch war da irgendetwas, was mich nervös machte. Mütterliche Intuition? Ich wusste es nicht.
„Guten Morgen zusammen!", begrüßte ich meine Schützlinge, als ich mit einem Berg Krankenakten unter dem Arm ins Arztzimmer gelaufen kam. Herr Zondek, Herr Rantala und Frau Krieger saßen schon am Tisch und schlürften alle müde ihren Kaffee. Unsicher blickte ich in die Runde. „Wo ist Frau Dr. Jahn?".
„Emma hatte Nachtdienst und ist schon auf dem Weg ins Bett.", erklärte Rebecca und blätterte dabei etwas abwesend in einer Zeitschrift über plastische Chirurgie. Ich hob die Augenbrauen und nickte wortlos. Manchmal erinnerte mich Frau Kriegers nüchterne Art irgendwie extrem an Matteo und ich bekam sofort wieder einen Kloß im Hals.
Schnell begann ich mit der Frühbesprechung und ging jeden einzelnen Patienten mit den jungen Ärzten durch, bevor ich ihnen die Einteilung für den heutigen Tag bekannt gab. „Herr Zondek, Sie sind mit Dr. Bähr in der Herz-Thorax-Chirurgie, Frau Krieger geht zu Dr. Berger auf die Gyn und Herr Rantala, Sie helfen bitte bei Dr. Mattes in der Notaufnahme." Seit Noah aus Berlin zu uns ans JTK gewechselt war, hatte sich einiges geändert. Er hatte Matteos Platz als leitender Oberarzt der Unfallchirurgie eingenommen und machte seine Sache dabei wirklich brilliant. Er war zwar streng, aber gleichzeitig unglaublich geduldig - gerade bei Assistenzärzten, die immer wieder etwas Zuspruch brauchten - wie Mikko eben.
„Es ist heute glatt draußen, also erwarten wir wohl einige Knochenbrüche... noch Fragen?". Abwartend blickte ich in die Runde, bekam jedoch nur einträchtiges Schweigen als Antwort.
„Okay ehm... dann wünsche ich allen einen schönen Tag!". Die Stimmung heute Morgen war wirklich alles andere als ausgelassen und ich hatte den Eindruck, dass meine Kollegen mich sehr seltsam ansahen. Ja - fast den Augenkontakt zu mir gänzlich mieden. Ob sich unsere Trennung schon herumgesprochen hatte? Manchmal verbreiteten sich solche Nachrichten in Windeseile über den Flurfunk... Ich stand auf und wandte mich dann nochmal im Gehen an Tom: „Herr Zondek, mir fehlt noch die Auflistung Ihrer OPs für die Anmeldung zur Facharztprüfung. Früher kann ich den Antrag leider nicht genehmigen.". Der junge Arzt nickte und versprach mir die Dokumente bis Dienstschluss per E-Mail zukommen zu lassen.
Anschließend zog ich die Schiebetür hinter mir zu und machte mich auf den Weg zu meinem Büro. Mit gesenktem Kopf lief ich über die Gänge, denn irgendwie hatte ich kein Interesse an Small Talk mit irgendwelchen Kollegen. Noch weniger Lust hatte ich, Ben hier über den Weg zu laufen und wieder seinen Fragen oder Anschuldigungen ausgesetzt zu werden. Auf der anderen Seite hätte mich schon interessiert, wo er die Nacht verbracht hatte und auch, ob es ihm gut ging. Doch erst einmal war ich froh, dass ich nun einfach den Papierkram, der sich auf meinem Schreibtisch fast meterhoch stapelte, in Ruhe abarbeiten konnte. Und genau das tat ich auch bis zum frühen Nachmittag, bis ich vom Klingeln meines Handys aus der Konzentration gerissen wurde.
Auf dem blinkenden Display konnte ich Elias Nummer erkennen und sah reflexartig auf die Uhr. Er hatte sicher schon Raya aus der Kita abgeholt und sie wollte mir von ihrem Tag erzählen. Sie war eben der Meinung, dass gewisse Dinge einfach sofort berichtet werden mussten und nicht bis zum Abend warten konnten. Der kleine Quatschkopf! Schmunzelnd klappte ich meinen Laptop zu und nahm den Anruf entgegen.
Als ich dann jedoch Elias Stimme hörte, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Er klang alles andere als vergnügt oder fröhlich. "Leyla... ich... Ich wollte eben Raya aus der Kita holen, aber...". Er machte eine Pause und ich konnte einen tiefen, fast verzweifelten Atemzug wahrnehmen. Stirnrunzelnd lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und versuchte mit einem "Elias? Ist alles okay?" mehr aus ihm herauszukitzeln.
Nach einer kurzen Pause fuhr er mit zitternder Stimme fort. "Raya ist... ". Wieder stockte er. "Elias, was ist mit ihr? Sag doch was!", kam es wie ferngesteuert aus meinem Mund. Ich spürte, wie mir heiß wurde.
Wieder ein Räuspern.
"Sie ist weg, Leyla."
Ich wusste nicht, ob ich ihn eben richtig verstanden hatte. "Wie sie ist weg? Was meinst du damit?
Elias, rede mit mir!", forderte ich ihn etwas forscher, als ich eigentlich wollte auf.
Dann begann er zu erzählen. Leise und teilweise etwas wirr kamen die Worte über seine Lippen. Immer wieder musste er beim Reden Pausen machen. Doch ich denke, ich habe die Hälfte sowieso nicht verstanden. Schon nach seinen ersten Sätzen begann sich bei mir alles zu drehen und es rauschte in meinen Ohren. Noch während Elias gesprochen hatte, war ich von meinem Stuhl aufgesprungen, musste mich jetzt aber wieder am Rand meines Schreibtisches abstützen, um nicht zu kollabieren.
Mein kleines Mädchen war weg! Sie war seit zwei Stunden wie vom Erdboden verschluckt!
Die Erzieherinnen hatten mit den Kindern heute einen Spaziergang in den Wald unternommen. Raya hatte mit ein paar ihrer Freunde etwas abseits von der Gruppe gespielt und war plötzlich verschwunden. Überall hatten sie sie gesucht. Erfolglos!
Elias Worte drangen durch den Schleier meiner Panik. "Die Mädchen, mit denen sie Verstecken gespielt hatte, haben sie auf einmal nicht mehr gefunden und sich dann eine der Erzieherinnen zu Hilfe geholt. Aber auch sie konnte Raya nicht finden...".
Allein bei dem Gedanken, dass meiner Maus etwas passiert sein könnte lies mir das Blut in den Adern gefrieren. Unter Tränen stotterte ich meine nächsten Sätze ins Telefon, während ich schon damit beschäftigt war, meine Jacke zu suchen. "Haben sie die Polizei schon verständigt? Weiß Ben Bescheid?". Hektisch griff ich nach meiner Tasche. Ich wollte einfach nur los. Wollte in den Wald und selbst nach meiner Tochter suchen. Wollte ihr helfen!
"Ja, es ist bereits ein Suchtrupp unterwegs, der den Wald durchkämmt. Ben habe ich allerdings noch nicht erreicht, ich fürchte, er steht gerade noch im OP...", kam es von der anderen Seite.
Verdammt! Ich musste Raya finden! Mein Handy noch am Ohr eilte ich zur Tür und riss sie auf.
Da stand Ben. Er stand einfach vor mir und blicke mich verwirrt an. "Hey! Kannst du hellsehen? Ich wollte eben schon klopfen, aber..." Als er meinen Gesichtsausdruck sah, hielt er kurz inne und legte die Stirn in Falten. "Leyla, ist alles okay bei dir?".

Always togetherWhere stories live. Discover now