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*Ben*
Mit dem Telefon am Ohr stand sie vor mir. Pure Verzweiflung konnte ich in ihrem Gesicht erkennen und hatte sofort ein seltsames Gefühl. War es wegen unserer Trennung?
Ich hatte die letzten Stunden im OP verbracht und währenddessen viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Über unsere Beziehung, über meine Entscheidung und auch darüber, was Elias mir gestern Abend alles dazu gesagt hatte. Lange hatten wir noch bei ihm in der Wohnung gesessen und haben über meine Frau und mich gesprochen. Meine Gefühle und Ängste habe ich meinem besten Freund bis ins letzte Detail erläutert, habe ihm aber auch von Leylas Verschlossenheit und der Mauer, die sie um sich aufgebaut hatte erzählt. Bährchen hatte sich alles genau angehört, mir seine Sicht der Dinge dargelegt und mir so ein wenig mehr die Augen geöffnet. Es schien doch noch nicht alles verloren zu sein und ich war mir sicher, dass wir noch eine Chance hatten. Wenn auch nur eine kleine... Jetzt wollte ich genau darüber mit Leyla reden und hoffte, dass ich ihr meine gestrige Kurzschlussreaktion erklären konnte.
Aber nun stand Leyla vor mir und sah mich nur mit weit aufgerissenen, verweinten Augen an. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht!
Sie hatte ihre Jacke einfach über ihren weißen Kittel gezogen und sich die Tasche ungehängt. Wo wollte sie denn so schnell hin? War irgendetwas passiert?
Bevor ich erneut nachfragen konnte, lies sie ihr Handy sinken und hielt es dann mir ans Ohr. Perplex über die Handlung griff ich danach, während sich Leyla schwer atmend gegen den Türrahmen lehnte und schluchzend langsam zu Boden sank. "Hallo? Wer... wer ist denn da?", stotterte ich ins Telefon, lies jedoch Leyla dabei nicht aus den Augen. Als ich daraufhin Elias aufgebrachte Stimme hörte, war ich mir sicher, dass es etwas Schlimmes war, was er mir gleich mitteilen würde..

*Raya*
„Mami? Papi?", waren meine ersten zaghaften Worte, als ich aus einem traumlosen Schlaf erwachte. Alles hier war so dunkel und der Boden auf dem ich lag war ziemlich unbequem. Ganz hart und gar nicht kuschelig. Ich glaube, ich lag nicht in meinem Bett zu Hause. Aber wo war ich denn dann? „Mama? Wo bist du?", rief ich jetzt etwas lauter. Aber meine Mami kam nicht. Ich hörte ein dumpfes Brummen, konnte dieses Geräusche aber absolut nicht einordnen. Dann merkte ich, dass mein Arm irgendwie weh tat. Sogar ziemlich schlimm! So schlimm, dass ich weinen musste. In meinen Ohren fiepte es jetzt auch seltsam und irgendwie war mir übel. So wie wenn ich heimlich zu viel Schokolade genascht hatte! Ich setzte mich langsam auf und starrte in die Dunkelheit. Es roch nicht wie zu Hause, sondern irgendwie ganz komisch. Ein wenig so, wie in dem Wald in dem ich mit Emma und Sophia Verstecken gespielt hatte! Ich dachte nach und war plötzlich total verwirrt. Was war denn danach passiert? Ich konnte mich einfach nicht mehr erinnern, was ich nach dem Spielen gemacht hatte! Onkel Elias hätte mich doch eigentlich aus dem Kindergarten abholen sollen. Aber ich wusste nicht mehr, ob er das tatsächlich getan hatte.
Hmm,... nein! Jetzt war ich mir sicher! Ich hatte ihn heute noch gar nicht gesehen, noch nicht umarmt und auch noch keinen Quatsch mit ihm gemacht. So wie wir es sonst immer taten, wenn Mami und Papi lange arbeiten mussten.
„Elias? Bist du da?", fragte ich schluchzend in die Stille. Wieder antwortete mir niemand. Ich musste immer mehr weinen, weil ich langsam ganz schön große Angst bekam. Wo waren denn alle? Normalerweise kam immer sofort jemand, wenn ich traurig war, es mir nicht gut ging, oder ich nach jemandem rief. Aber es passierte einfach nichts! Und mein Arm tat mir jetzt so sehr weh, dass ich wirklich jemanden gebraucht hätte, der mich tröstet...

*Leyla*
Ich war wie gelähmt vor Angst um unseren kleinen Engel. Was, wenn sie irgendwo herumirrte und nicht wusste, wo sie war? Wenn ihr irgendetwas zugestoßen war... Sie war doch noch so klein und so hilflos!
Ben stand immernoch mit dem Handy am Ohr vor mir und wirkte zunehmend entsetzt. Immer wieder schüttelte er den Kopf und ich konnte erkennen, dass er sehr mit der Fassung rang. Vermutlich hatte Elias ihm jetzt auch all das erzählt, was er zuvor mir versucht hatte schonend beizubringen... Es war wie in einem schlechten Traum. Mit dem Unterschied, dass ich nicht schlief - leider. Zu gerne wäre ich jetzt einfach aufgewacht und hätte meine kleine Tochter sicher in meinen Armen gehalten...
Die Worte meines Mannes durchdrangen nun die angespannte Stille: "Okay... wir kommen in fünf Minuten zum Parkplatz... ja... bis gleich!".
Langsam ging Ben, nachdem er aufgelegt hatte, in die Hocke und legte mir zögerlich seine Hand auf die Schulter. "Er kommt uns gleich abholen und bringt uns dann zu dem Waldstück, wo Raya... ", er stockte kurz und holte nochmal Luft. „...wo unsere Kleine verschwunden ist." Er verdeckte seine Augen mit einer Hand, während sein Unterkiefer ein wenig zu zittern begann. Ihn hatte die Nachricht offensichtlich genauso überrumpelt und geschockt, wie mich. Vorsichtig legte ich meine Hand an Bens Wange und streichelte mit meinem Daumen darüber. „Ben? Wir finden sie, hörst du? Es geht ihr bestimmt gut und sie hat sich bloß ein wenig verlaufen.", versuchte ich ihm leise Mut zu machen. Jedoch klangen meine Worte alles andere als überzeugend, das merkte ich sofort. Ben wischte sich kurz über die Augen und atmete tief durch. „Ja...du hast sicher recht.", antwortete er kaum hörbar und hob den Blick. „Lass uns nach unten gehen, ja?"
Auch wenn ich das Gefühl hatte, dass meine Beine jeden Moment nachgeben würden, stand ich zaghaft auf... .
.
*Unknown*
„Halt endlich deinen Mund!", brüllte ich das Mädchen an, das im Kofferraum scheinbar wach geworden war. Die Wirkung des Hypnotikums hatte offensichtlich nachgelassen, sodass sie nun wieder zu sich kam. Das Kind weinte und schrie verzweifelt nach ihren Eltern. Hastig drückte ich das Gaspedal noch etwas mehr durch und stellte das Radio an. Nun dröhnte laute Musik aus den Lautsprechern und übertönte das Jammern der kleinen Ahlbeck.
Den ganzen Vormittag hatte ich sie beobachtet. Wie ihre Mutter sie in den Kindergarten gebracht hatte, sie erst dort gespielt, gesungen und getanzt hatte bis sie schließlich mit dem Rest ihrer Gruppe in den Wald spaziert war. Das war meine Chance! Hinter einem großen Busch legte ich mich auf die Lauer und wartete einfach ab. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich in meinem Versteck verharrte, aber es lohnte sich! Als ich sah, dass Raya nach einiger Zeit anfing, mit ihren Freundinnen Verstecken zu spielen, konnte ich es kaum fassen. Das war perfekt! Vorsichtig pirschte ich mich an, als sie sich hinter einem morschen Baumstamm duckte. Flink presste ich ihr ein mit Chloroform getränktes Taschentuch auf Mund und Nase. Natürlich begann sie sogleich panisch zu strampeln und wehrte sich heftig. Ich packte grob ihre kleinen Handgelenke, als sie wild um sich schlug. Was für ein Quälgeist! Doch es dauerte keine zwanzig Sekunden bis sie die Augen verdrehte und in sich zusammen sackte. Geht doch! Prüfend sah ich mich um, um ganz sicher zu sein, dass mich niemand gesehen hatte - vor allem keine der Erzieherinnen. Aber die Luft war rein! Schnell legte ich mir das Mädchen über die Schulter und machte mich durch das Dickicht davon. Quer durch die Büsche, über Gehölz, Steine und von dem gestrigen Regen aufgeweichten Waldboden...

*Leyla*
Wortlos saßen wir in Elias Auto und fuhren durch die vom Berufsverkehr völlig überfüllten Straßen. Ich starrte aus dem Fenster und hatte meinen Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Das kühle Glas an meiner Stirn tat gerade wirklich gut. Niemand sagte etwas. Elias hatte sogar das Radio ausgeschaltet. Nur das Brummen des Motors und das gelegentliche Klicken des Blinkers war zu hören, wenn wir um die Kurve fuhren. Ich war ihm so dankbar, dass er uns begleitete und zur Polizeidienststelle brachte. In meinem Zustand wäre ich definitiv nicht in der Lage gewesen, ein Fahrzeug sicher zum Ziel zu manövrieren. Die Beamten hatten wohl noch einige Fragen an uns und auch ich wollte unbedingt wissen, ob es etwas Neues gab. Raya konnte doch nicht einfach wie vom Erdboden verschluckt sein! Wieso hatte denn keine der Erzieherinnen bemerkt, dass sie plötzlich verschwunden war? Sie hatten doch eine Aufsichtspflicht!
Mein Bauch grummelte vor Angst schmerzhaft und ich legte meine Hand darauf, um ihn etwas zu beruhigen. Diese Geste bereitete mir Flashbacks... an die Zeit, in der ich Raya immer bei mir unter meinem Herzen trug. Tag und Nacht! Als ich sie spüren konnte und sie bei mir sicher war. Während der Schwangerschaft war alles gut. Unsere Welt war damals noch in Ordnung. Wir hatten uns damals unsere Zukunft als kleine Familien so wundervoll vorgestellt. Uns alles genau ausgemalt, in den schönsten Farben.
Mein kleines Mädchen hatte jedoch in ihrem kurzen Leben schon so viel erlebt und ich wusste einfach nicht, was ich falsch machte! Ich tat doch alles, nur dass sie glücklich war und es ihr gut ging. Ich hätte mein Leben für sie gegeben und jetzt war sie weg! War ich so eine schlechte Mutter? Ich hätte sie niemals alleine lassen dürfen. War es zu egoistisch gewesen, wieder mit dem Arbeiten anzufangen?
Plötzlich merkte ich eine Hand auf meinem Oberschenkel, die sanft darüber streichelte. Ich blickte auf. Ben, der neben mir auf der Rückbank saß, sah mich mit sorgenvollen Augen an. Er hatte anscheinend gemerkt, was in mir vorging. Gespürt, dass ich mich elend fühlte.
"Leyla... wir finden sie, okay?", flüsterte er und rutschte noch in kleines Stück an mich heran.
Ich nickte stumm und nahm zögerlich seine Hand. Wir mussten unseren Streit und unsere Differenzen jetzt für einen Moment vergessen. Es war unsere kleine Tochter, die vermisst wurde! Da gab es keinen Platz mehr für eine Ehekrise, oder gegenseitige Anschuldigungen. In diesen Stunden mussten wir zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen, sonst würden wir beide daran zerbrechen. Ich schloss meine Augen und lehnte den Kopf an Bens Schulter. Der Duft seines Parfüms zog mir in die Nase und bereitete mir für einen kurzen Augenblick dieses wohlige Gefühl der Vertrautheit. Gedankenverloren nahm ich gar nicht wahr, dass Elias uns durch den Rückspiegel beobachtete. Als er uns so sah, verschwanden auch seine Sorgenfalten von der Stirn und er musste ein wenig lächeln....

Always togetherWhere stories live. Discover now