Teil 3

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Dass ich die Zähne kaum auseinanderbekam, machte nichts. Es quoll nur so aus Gettmann heraus, zu Anfang ziemlich sprunghaft, was es mir erschwerte ihm zu folgen. Von Lottis Gesicht kam er übergangslos auf Unregelmäßigkeiten in der Firma Bolger zu sprechen.
Er benutzte tatsächlich diesen Ausdruck. Und ich dachte an schiefe Wände und unebene Fußböden.
Das mag lächerlich erscheinen in meinem Alter, aber ich hatte siebeneinhalb Jahre in einer Umgebung verbracht, in der jeder mehr Taschengeld zur Verfügung hatte, als er in der knappen Freizeit ausgeben konnte. Vielleicht war ich auch zu aufgewühlt, um den „Unregelmäßigkeiten" sofort die richtige Bedeutung beizumessen.
Stolz auf den Stammhalter. Mich mitgebracht, damit ich mit Katrin spielen und eine halbe Schachtel Cremewaffeln verdrücken konnte. Mein Magen fühlte sich an, als müsse ich gleich in mein Auto kotzen. Mir war speiübel, nicht von den Waffeln. Die rührte ich nicht an. Es war der Sturz, erneut von einem Extrem ins andere gefallen, weil ich es nicht schaffte, den goldenen Mittelweg zu finden, den Birgit seit Jahren beschritt.
Mit neunzehn Jahren sieht man so einen Weg nicht, wenn man einmal ein vierjähriges Mädchen mit durchschnittener Kehle gesehen und gehört hat, es sei an seinen Haaren unter der Eckbank hervorgezogen worden. Man sieht nur Schuld oder Unschuld, kann nur vergöttern oder verteufeln.

„Ich weiß ja nicht, was die dir erzählt haben", sagte Gettmann, „aber die Wahrheit wird's kaum gewesen sein. Peter hat sich mächtig ins Zeug gelegt, um das mit Amelie zu vertuschen. Er wollte Lotti unbedingt aus allem raushalten, damit nicht die halbe Stadt mit dem Finger auf seine Alte zeigt."
Das klang, als hätte Peter doch gewusst, wer Amelie auf dem Gewissen hatte. Ich hatte unwillkürlich sein Schluchzen im Ohr: „Lotti, du dumme Sau, was hast du getan?"

Nur mit Mühe konnte ich mich auf Gettmann konzentrieren, der ohne Pause weitersprach.
„Über deinen Opa konnte man nie was Schlechtes sagen. Mit dem solltest du dich mal unterhalten. Die Weiber haben zwar immer hinter seinem Rücken hantiert, aber ich bin sicher, dass er Bescheid weiß. Damals hat er den Mund nicht aufgemacht, war alles zu viel für ihn, denke ich. Und die Zeitungen haben nur gedruckt, was der Mistkerl behauptet hat."
Gettmann redete wie ein Wasserfall über Rohre und Kabel, Fußbodenbeläge und Isoliermaterial, Heizkörper und Platten für den Hof, Dachziegel und eine schmiedeeiserne Außentür, ein Klo und ein Waschbecken.
Ich verstand ihn kaum noch. Seine Stimme vermischte sich mit Erinnerungsfetzen. Peter sprach von anderen Presseberichten, in denen Dinge stünden, die Großmutter Johanna nicht gerne las.
Lotti bügelte und zeterte dabei: „Die faule Sau schiebt da nur noch eine ruhige Kugel und bedient sich."
Thomas trug eine Kloschüssel die Kellertreppe hinunter und rief: „Bahamabeige oder wär' dir blau lieber gewesen? Ich hätte auch blau nehmen können, aber finde das ist zu düster für so'n kleinen Raum. Das passende Becken hab ich schon dabei, es liegt noch im Auto. Den Schpülkasten bring' ich morgen mit."
Nun konnte ich mir auf die „Unregelmäßigkeiten" den richtigen Reim machen. Er hatte gestohlen, was er für die Instandsetzung des alten Hauses gebraucht hatte. Alles geklaut!

Was Gettmann in der Zwischenzeit von sich gegeben hatte, war an mir vorbeigerauscht. Als ich ihn wieder verstand, dachte ich, er spräche unverändert von Peter. Mistkerl! In dem Tenor ging es weiter. „Davon wollte der Mistkerl nachher nichts wissen. Sogar mir hat er die Polizei auf den Hals gehetzt. Wir hatten kurz vorher bei meinen Schwiegereltern ein neues Bad eingebaut und auf der Baustelle war angeblich 'ne komplette Sanitärausstattung weggekommen. Die wird der Dreckssack unter der Hand verscherbelt haben. Mit Thomas hatte er 'nen dummen, dem er alles in die Schuhe schieben konnte."
„Wer?", fragte ich, weil mir endlich Zweifel kamen, dass mit all den Schimpfwörtern Peter belegt wurde. Der hatte doch mit der Baustelle nichts zutun und es auch nicht nötig gehabt, Badewannen, Becken oder Klos zu klauen.
„Ja, von wem red' ich die ganze Zeit?", fragte Gettmann. „Von dem Schwein, das deine Familie abgeschlachtet hat. Dieter."
„Dieter Bolger?"
Für den hatte ich vor drei Jahren kein Motiv gesehen und sah immer noch keins. „Warum hätte der...?"
Ich brach ab, als Gettmann sich auf einen Schenkel klopfte und triumphierte: „Du weißt das nicht! Hat deine Oma doch recht. ‚Sie wollen es nicht wahrhaben, da haben sie es dem Felix nie und nimmer erzählt', hat sie gesagt. Als sie dir geschrieben hat, hat sie es sich verkniffen, damit's nicht wieder hieß, sie hätte dir was vorgekaut. Damals im Krankenhaus konnte sie es dir nicht sagen. Du warst noch zu klein, und da wusste sie es selber noch nicht."
Dieter Bolger, den Großmutter Thiede so gerne als Schwiegersohn gehabt hätte, hatte dem Giftzahn laut Gettmann zum dritten Enkelkind verholfen. Wenn man ihm glaubte, war das alles andere als üble Nachrede.
„Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie Lotti mit Dieter zugange war", erklärte er nachdrücklich. „Ich hab's nur nicht übers Herz gebracht, sie zu verpfeifen. Werd ich mir nie verzeihen, kannst du mir glauben. Wenn ich sofort mit Thomas gesprochen hätte, könnten sie alle noch leben."
Lange vor dem Massaker, im Dezember 76, habe er Lotti und Dieter in flagranti erwischt, erzählte Gettmann. Ich will nicht behaupten, ich hätte mich so gut an den Winter erinnert wie er. Doch seine Schilderung fand Echos in meinem Hirn.
Nach Gettmanns Darstellung hatte die Affäre mindestens bis zum Sommer 77 gedauert. Dieter Bolger war zu der Zeit verlobt, doch das hielt ihn nicht davon ab, Lotti zu besteigen. Dass es Lotti darauf anlegte, sich von ihm schwängern zu lassen und mit einem Kind eine sprudelnde Geldquelle in die Welt zu setzen, begriff Dieter Bolger vermutlich erst, als Amelie unterwegs war und Lotti damit drohte, seine Verlobte zu informieren, falls er nicht zahle.
Dieter Bolger fügte sich in sein Schicksal, obwohl er sich nicht zwingend für den Verursacher der Schwangerschaft hielt. Da Lotti sich anfangs mit Kleckerbeträgen zufriedengab, zahlte Dieter Bolger zähneknirschend mal hundert Mark, mal zweihundert. Solche Summen waren für den Juniorchef eines florierenden Bauunternehmens kein Problem.
Als Thomas im Spätherbst 77 den Erwerb des alten Hauses ins Auge fasste, fand Lottis Genügensamkeit ein jähes Ende. Sie verlangte von Dieter Bolger eine einmalige Abfindung in sechsstelliger Höhe. Sie wollte eben ein großes Haus. Dieter sollte im Gegenzug ein Schriftstück erhalten, das ihn von späteren Unterhaltsleistungen von Amelie freistellte. Thomas wollte sie weismachen, sie hätte einen satten Vorschuss aufs Erbe bekommen. Nur konnte Dieter nie und nimmer so viel Geld aufbringen. Daraufhin bot Dieter Bolger dem ahnungslosen Thomas an, als Ersatz für eine Lohnerhöhung, die momentan nicht drin sei, alles aus dem Lager zu nehmen, was er für die Renovierung des alten Hauses brauchte.

Mein eigen Fleisch und BlutWhere stories live. Discover now