Teil 5

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„Was liest du da?“, fragte ich endlich.
„Für den Termin mir der Hellseherin von heute Mittag brauche ich einen Ersatz. Diese Frau kann man nicht ernst nehmen, sowas kann ich nicht auf Papier bringen! Als ich bei der alten Vermeulen war, dachte ich, die Alte spinnt genauso wie die anderen. Jetzt stellt sich das anders dar. Weißt du, was sie gesagt hat?“
Woher hätte ich das wissen sollen?
„Sie sah den Tod in meiner Nähe“, klärte Tanja mich auf, ohne von ihrer Lektüre hochzuschauen. „Sprach von einem Mann mit blutigen Händen, vor dem ich mich hüten soll.“
Ich warf automatisch einen Blick auf meine Hände.

Ich ging zu ihr und streckte verlangend die Hand aus. „Gib her.“ Sie kümmerte sich nicht darum.
„Warum hat sich damals niemand um deine Angaben gekümmert?“, fragte sie.
„Es waren nur Albträume.“
„Nur Albträume“, murmelte sie, sprach in normaler Lautstärke weiter: „Aber aufschlussreiche. Ich bin gespannt, was ein professioneller Traumdeuter dazu sagt. Ein Tiefenpsychologe, verstehst du, kein Scharlatan. Du musst den Mörder deiner Familie damals gesehen haben, ist dir das nicht klar?“
„Doch“, sagte ich und nahm ihr das Blatt aus der Hand. Sie hob ein anderes vom Boden auf.
„Das hier halte ich auch für bemerkenswert“, erklärte Tanja und fügte hinzu: „Das Symbol Perlen gibt es zweimal. Weiße Perlen, Sinnbild der Unschuld und Reinheit, könnte ich mir vorstellen. Dein Unterbewusstsein erinnert dich daran, dass du die Unschuld deines Vaters in den Händen hattest.“
Endlich schaute sie auf und lächelte ihr typisch überhebliches Lächeln.
„Das war kein Symbol, sondern der Schmuck meiner leiblichen Mutter“, sagte ich angespannt.
Das interessierte sie anscheinend nicht. „Ihr habt bestimmt einen Kopiergerät in der Firma. Vielleicht sogar eins hier im Haus? Das Originale wirst du mir kaum überlassen. Aber wenn ich Henssler nichts davon zeige, glaubt er mir das nie.“
„Nein. Du wirst keine Kopien machen. Du wirst Henssler davon weder etwas erzählen, noch zeigen. Du legst jetzt alles fein säuberlich wieder in die Schachtel, stellst die zurück in den Nachttisch und vergisst es.“
„Das träumst du aber auch nur!“, fuhr sie mich an und war auf den Beinen, ehe ich schlucken konnte. „Du Scheißkerl! Das ist eine Story, auf die Henssler abfahren wird, und du behältst sie für dich. Was hast du dir dabei gedacht? Dass ich dir nie auf die Schliche komme?“

Ich kam nicht zu einer Antwort. Hatte die Verbindungstür hinter mir nicht abgeschlossen, das tat ich nie. Peter stürmte herein. Ob er gelauscht hatte, um sich zu vergewissern, dass ich die Nerven behielt, oder ob er erst durch Tanjas Gebrüll aufmerksam geworden war, wie er behauptete, weiß ich nicht.
„Was soll das Geschrei?“, herrschte er sie an.
Im nächsten Augenblick sah er die herumliegenden Papiere und stutzte. Dann huschte ein abfälliges Lächeln um seine Mundwinkel. „Sieh an, du hast das sorgsam gehütete Familiengeheimnis gelüftet und willst deinen beruflichen Ehrgeiz damit befriedigen. Aber Felix hat etwas dagegen, und ohne sein Einverständnis geht es nun mal nicht.“
Mit den nächsten Sätzen wandte er sich an mich: „Keine Bange, du bist kein Allgemeingut, über das sich jeder sensationsgeile Schmierfink nach Belieben auslassen darf. Sie kann die alte Geschichte aufwärmen, das lässt sich leider nicht verbieten. Daran wird allerdings kein seriöses Nachrichtenmagazin interessiert sein. Und selbst wenn, darf sie weder deinen Namen nennen, noch sonst etwas. Verstanden?“
Ich war nicht sicher, ob sein letztes Wort an mich oder an sie gerichtet war. Als ich nickte, fügte er hinzu: „Dann pack den Kram zusammen und wirf ihn weg. Das hättest du längst tun sollen. Wieso hast du das alles überhaupt aufgehoben?“
Ja, wieso? Weil ich mich nicht lösen konnte von der Vergangenheit? Ich weiß es nicht, es ist heute auch nicht mehr wichtig.

Nachdem Peter meine Wohnung verlassen hatte, wischte Tanja mit wenigen Handbewegungen das Bett frei, zog sich aus und legte sich hin. Nicht mal ihre Zahnbürste holte sie aus dem Rucksack.
Ihr muss vor Wut die Galle übergelaufen sein.
Ich sammelte jedes Blatt Papier vom Fußboden auf, legte es in die Schachtel und verstaute diese im Wohnzimmerschrank. Nach dem Zähneputzen schlug ich mein Nachtlager sicherheitshalber auf der Couch auf. So hatte ich den Schrank im Blick und ging jeder Auseinandersetzung aus dem Weg.

Mein eigen Fleisch und BlutWhere stories live. Discover now