Prolog

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12 Jahre zuvor

„Hatschi!"

Schnell schlug ich mir meine Hand vor den Mund, als könnte das mein Geräusch ungeschehen machen, und duckte mich noch weiter ins Gras. Meine großen Augen waren auf den Jungen gerichtet, der sich umgedreht hatte und nun in meine Richtung sah. Er suchte die Gegend ab, doch schien mich nicht zu entdecken, bevor sein Vater ihn am Arm zog, sodass er die Suche unterbrechen und hinter ihm her tapsen musste. Puh, das war noch einmal gut gegangen. Papa wäre böse, wenn diese Leute herausfinden würden, dass ich sie beobachtet hatte. Letzte Woche hatte er mich hier erwischt und mich daraufhin zwei Tage lang in mein Zimmer gesperrt. Bei dieser Erinnerung hielt ich inne. Dann folgte mein Blick langsam den zwei Männern, die nicht hierhergehörten. Allein an ihrer sauberen Kleidung erkannte ich, dass sie zu Denen gehörten. Aber da war noch etwas anderes, das mich spüren ließ, dass sie nicht so waren wie ich. Mein Papa und Ila sagten immer, ich würde mir das nur einbilden, aber irgendwie zog mich dieses Gefühl immer wieder zu diesen Männern. Wieder redete der Vater des Jungen mit einem Mann, der hier in der Gegend wohnte, und der kleine Junge schien sich zu langweilen, da er sich immer wieder auf der Stelle drehte. Er tat mir leid, dass er nicht mit Freunden spielen durfte, und ich war froh, dass mein Papa mich nicht mit zu seiner Arbeit nahm. Ich würde mich zu Tode langweilen.

Nein, den beiden Fremden zuzuschauen war keinen weiteren Hausarrest wert, entschloss ich, hüpfte auf die Beine und rannte den Hügel hinauf, weg von dem Jungen. Die Wiese blühte momentan und war voller Schmetterlinge, die nun wild durcheinander in die Luft flogen, was mich zum Lachen brachte. Ich liebte Schmetterlinge! Bis ich den höchsten Punkt erreicht hatte, hielt ich keine Sekunde an, dafür keuchte ich nun ganz schön, als ich mich ins Gras setzte und den Abhang auf der anderen Seite betrachtete. Im Winter wuselte es auf dem Hügel nur so von uns Kindern, weshalb wir ihn einfach den Kinderberg nannten. Wir liebten es, uns hier im Schnee hinunter rollen zu lassen. Dabei konnte man ganz schön schnell werden, was ich am besten wusste, weil ich die schnellste war. Ila sah das zwar anders, aber sie war einfach nur neidisch.
Schade, dass jetzt kein Schnee lag, dachte ich. Dann hielt ich inne.

Im nächsten Moment lag ich seitlich zum Hang auf dem Rücken – ich konnte das doch genauso gut ohne Schnee machen. Nach einem erneuten prüfenden Blick auf meine Strecke schloss ich die Augen – und rollte los. Ich wirbelte herum, doch das war ich schon so von der kalten Jahreszeit gewohnt. Was ich nicht bedacht hatte waren die Maulwurfhügel und Steine, die ansonsten unter dem Schnee verborgen lagen. Nun schmerzte es, als ich mit Rücken, Armen oder dem Kopf über die Unebenheiten rollte, doch ich unterdrückte einen Aufschrei. Erleichtert stellte ich bald fest, dass ich langsamer wurde und die Ebene erreicht hatte. Da würden einige weitere blaue Flecken morgen auf meiner Haut zu sehen sein. Langsam setze ich mich auf, während sich die Welt um mich herum noch drehte, was vielleicht auch daran lag, dass ich mir irgendwo den Kopf gestoßen hatte. Auch die Geräusche, die ich während des Rollens gehört hatte, klangen noch leise in meinen Ohren. Dass sie immer lauter wurden und irgendwann ein erschrockenes ‚Aaaah' hinzukam, wunderte mich zwar, aber ich realisierte erst, dass etwas nicht stimmte, als jemand in mich prallte und mich mit sich riss. Zwar hörte auch hier die Welt schnell wieder auf, sich zu drehen, aber ich wurde aus dem Wirrwarr aus Armen und Beinen, das sich mir bot, nicht schlau. Ich glaubte zwar, dass der Arm, der mir gegen die Wange drückte, nicht der meine war, aber um ganz sicher zu gehen, wackelte ich mit allen Fingern. Nein, an besagtem Arm tat sich nichts, also: nicht meiner. „Entschuldigung", krächzte die Stimme, die zum Besitzer des Arms gehörte. „Du solltest besser steuern, wo du hin rollst", verriet ich ihm und wir begannen, unsere Gliedmaßen zu sortieren. Tatsächlich saßen wir kurze Zeit später nebeneinander im Gras und ich erkannte den Jungen, den ich zuvor beobachtet hatte. Jetzt realisierte ich auch das seltsame Gefühl, stärker als je zuvor, da er so nah neben mir war, wie ich noch nie einem von Ihnen gewesen war. Meine Haut kribbelte und ich rutschte etwas weiter von ihm weg. „Aua", jammerte er, als er eine blutige Stelle an seinem Arm betrachtete. Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Nun, da seine Klamotten genauso schmutzig waren wie meine, sah er aus wie ein Junge aus unserer Gegend. Er war vielleicht etwas älter als ich, neun oder zehn. Seine braunen Haare waren nun zerzaust und die brave Frisur zerstört, die er vorhin noch getragen hatte. Erst als ich seine eigenartigen braunen Augen mit auffallenden hellblauen Tupfen bewunderte, fiel mir auf, dass er mich auch anschaute. „Ich dachte, ich bin das Mädchen. Dabei jammerst du mehr als ich", stellte ich fest. Seine Augen wurden groß. Anscheinend hatte so etwas noch keiner zu ihm gesagt. „Ich jammere nicht", erwiderte er dann trotzig und streckte mir die Zunge heraus. Als Rache wollte ich ihn mit meinen Armen an der Brust nach hinten stoßen, doch er war blitzschnell und hielt meine Handgelenke fest. „Was hast du denn da?", fragte er interessiert und betrachtete meine Hände.

Noch vor einem Jahr hätte ich meine Hände nun hinter meinem Rücken versteckt und wäre weinend nach Hause gerannt. Ich hätte mich in meinem Bett verkrochen und mich nur von Ila in den Arm nehmen und trösten lassen. Doch mittlerweile war ich ein großes Mädchen. Meine Hände waren schön und besonders, das hatte Ila mir eingetrichtert. Seit ich das auch selbst glaubte, hatten die Hänseleien der anderen Kinder aufgehört. „Das nennt man Feuermal", erklärte ich dem Jungen und der Streit von zuvor war vergessen. Er berührte eine der roten Stellen, die sich fleckig über meine beiden Hände bis über die Handgelenke zogen, vorsichtig und schaute mich dann gespannt an. „Tut das weh?" Ich schüttelte den Kopf. „Ich wurde damit geboren und es ist einfach da. Es gehört zu mir." Die Worte, die immer in meinem Kopf umherschwirrten, laut auszusprechen, war mittlerweile gar nicht mehr schwer. „Und kannst du damit auch was Besonderes machen? Kannst du das Feuer kontrollieren?" Nun klang er wirklich aufgeregt, ließ meine Hände los und die seinen umherwirbeln. Ich lachte, denn es sah sehr komisch aus, was er da machte. Als wolle er eine Fliege verscheuchen oder würde im Dunkeln seinen Weg durch einen Raum tasten – eine Mischung aus beidem. „Nein, ich bin ein Mensch", erwiderte ich, denn laut Papa war es das, was mich von jemandem wie dem Jungen unterschied. Ich war ein Mensch. Er einer von Denen. Sie hatten einen Namen, doch den konnte ich weder aussprechen noch ihn mir länger als eine Minute merken. Ich wusste, dass sie anders waren und in einer anderen Gegend der Stadt lebten. Nur selten kamen sie hierher in den Außenring und ich war noch nie einem von ihnen so nahe gewesen. Die meisten von uns schienen Angst vor ihnen zu haben, denn sie gingen ihnen meistens aus dem Weg oder tuschelten leise, wenn sie ihnen den Rücken zukehrten. Der Junge hier schien aber gar nicht so schlimm zu sein. Ich hatte jedenfalls keine Angst vor ihm. Mittlerweile hatte er mit seinen seltsamen Bewegungen aufgehört. „Ach so, schade", sagte er und zuckte die Achseln. „Vielleicht jammere ich auch darum nicht so sehr wie du", zog ich ihn auf – und machte einen Satz nach hinten, als er auf mich zustürmte und mich fangen wollte. Schnell floh ich lachend, doch eine tiefe Stimme ließ uns beide im nächsten Moment innehalten. „Ven! Komm sofort hierher, du Kindskopf! Wir sind hier, um wichtige Dinge zu erledigen, und nicht, um kleinen Menschenmädchen Angst einzujagen." Ich erkannte den Mann, der den Jungen zuvor an der Hand gehalten hatte, ein paar Meter vor uns an der Straße. Er schaute streng, doch nicht böse. Als der Junge ohne jeglichen Protest sofort zu dem Mann lief, war ich mir sicher, dass er keine zwei Tage Hausarrest bekommen würde. Die beiden gingen ohne ein Wort zu mir die Straße entlang, woraufhin ich die Arme vor der Brust verschränkte.

„Ich habe übrigens keine Angst vor dir!" Beide schauten über ihre Schulter zu mir, ein Grinsen auf den Lippen.

Der Klang des SchattensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt