10. Schwarzer Hass

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„Du erzählst mir jetzt auf der Stelle, wo du dich nachts herumtreibst!" Erschrocken zuckte ich zusammen, als Ilas Stimme die Stille durchbrach. Ich hatte angenommen, sie würde schlafen und ich konnte unbemerkt in mein Bett schlüpfen. Fehlanzeige. Meine Schwester saß aufrecht im Bett, die Arme vor der Brust verschränkt. Im Licht des Mondscheins, das zwischen den Gardinen ins Zimmer fiel, erkannte ich sowohl den Tadel als auch die Frage in ihrem Gesicht. „Gestern habe ich dich in Ruhe gelassen, weil ich dachte, dass du mir schon noch erzählen würdest, wo du dich so spät herumtreibst. Aber ein zweites Mal werde ich nicht so tun, als würde ich nicht hören, wie du dich ins Zimmer schleichst. Außerdem – woher kommt das Lächeln auf deinem Gesicht?"

Ich hatte mittlerweile meine Kleidung gegen mein Nachthemd getauscht und realisierte erst, als sie es ansprach, dass ich tatsächlich lächelte. Schlagartig entspannten sich meine Mundwinkel wieder und ich seufzte. Wenn ich ihr erzählte, dass ich mich mit jenem Imperiden traf, mit dem sie mir eine tragische Liebesgeschichte prophezeit hatte, würde ich ihr jedes Detail erzählen müssen. Aber hatte ich überhaupt eine Wahl? Erneut seufzte ich, diesmal resigniert, und lehnte den Kopf gegen das Kopfteil meines Bettes. „Du erinnerst dich an den Imperiden, von dem ich dir erzählt habe?", begann ich und erkannte aus dem Augenwinkel, dass Ila ihren Arm aufstellte und ihr Kinn auf ihrer Handfläche abstützte, als würde sie einer spannenden Geschichte lauschen. „Du meinst den attraktiven Leckerbissen, der dir durch den Kopf spukte?", hakte sie nach, wohlwissend, dass dieser der einzige Imperide war, über den ich je mit ihr geredet hatte. Ich war mir sicher, sie wollte nur die Worte attraktiver Leckerbissen aussprechen, ignorierte dies und erzählte ihr von meinem Gespräch mit Ven und Lokan auf dem Fest sowie von den beiden Abenden, an denen ich mich mit Ven getroffen hatte, um mehr über seine Spezies zu erfahren.

„Du datest also einen heißen Imperiden und hältst es nicht für nötig, deiner Schwester davon zu erzählen?", fragte Ila empört, als ich geendet hatte. Man musste ihr lassen, dass sie mich zuvor kaum unterbrochen hatte, was ihr ungeheuer schwergefallen sein musste. „Ila, ich habe nichts mit dem Imperiden am Laufen und du bist die einzige, die annimmt, er sei heiß. Dieses Wort kam nie im Zusammenhang mit ihm aus meinem Mund. Ich habe mich auf sein Angebot eingelassen, um mehr über diese Wesen zu erfahren, die uns bevormunden und uns im Außenring wie Puppen herumscheuchen. Wir wissen kaum etwas über sie und ich bin neugierig. Vielleicht finde ich auch heraus, was es mit diesem Kribbeln auf sich hat."

Es blieb still, sodass ich nach einigen Augenblicken meinen Kopf drehte, um zum Bett meiner Schwester zu schauen. Ich hatte angenommen, Ila sei vielleicht endlich eingeschlafen, doch sie hatte ihre Position nicht verändert. Im schwachen Mondlicht erkannte ich, dass sie mich immer noch musterte. „Er ist zwar ein Imperide und du solltest vorsichtig sein, aber ich denke immer noch, dass er anders zu sein scheint. Du hattest schon immer ein extrem schlechtes Bild von den Imperiden. Vielleicht hilft er dir, deinen Zorn auf seine Spezies zu zügeln. Das würde dir wirklich guttun, Ryn. Ich habe das Gefühl, dass in dir viel mehr dunkle Gefühle sind, als du zeigst. Es ist schön zu sehen, dass du dich nachts mit einem Lächeln im Gesicht ins Zimmer schleichst."

Ich legte mich hin, drehte Ila den Rücken zu und zog die Decke bis unters Kinn. Die Wahrheit ausgesprochen zu hören, machte sie realer. Ich hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich unsere Welt, so wie sie war, falsch fand. Die Imperiden an der Macht und wir Menschen ihre Marionetten, denen Selbstbestimmung ein Fremdwort war. Dennoch bemerkte ich erst jetzt, wie dieser schwarze Hass in mir brodelte, von dem Ila eben gesprochen hatte. Sie war meine Schwester. Sie wusste, was in mir vorging, und das manchmal besser als ich selbst. „Gute Nacht", murmelte ich und war in der folgenden Stille allein mit meinen Gedanken, die durch meinen Kopf rasten, und den Gefühlen, die mich wachhielten.

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„RYN!"

Der Schrei ließ mich aus dem Schlaf schrecken, in den ich letztendlich gesunken war. Ich brauchte kurz, um zu realisieren, dass die ersten Sonnenstrahlen bereits ins Zimmer fielen und Ilas Bett leer war. Ihre Stimme war es auch gewesen, die meinen Namen gerufen hatte, und ich verlor keine weitere Sekunde. In meinem Nachthemd huschte ich die Treppe nach unten und sah Ila durch den Türrahmen, der zum kleinen Zimmer unseres Vaters führte, auf dem Boden knien. Ich erkannte den Schrecken in ihren Augen und ließ meinen Blick dann tiefer wandern, um zu sehen, was sie in der Hand hielt. Es sah nach einem Stück Holz aus, doch ich konnte nicht zuordnen, woher es stammte. „Was ist passiert?", fragte ich, während ich mit schnellen Schritten das Esszimmer durchquerte und auf der Türschwelle stehenblieb. Auch Papas Gesicht war bleich, als habe er einen Geist gesehen.

Der Klang des SchattensDonde viven las historias. Descúbrelo ahora