1. Liam

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Liam starrte das Portal so lange an, bis seine Augen tränten – und selbst dann konnte er den Blick nicht von der grauen Spiegelfläche lösen. Dutzende leuchtende Punkte bewegten sich vor und hinter seinem Spiegelbild hin und her. Hexen, die mit erhobenem Zauberstab nach bekannten Gesichtern suchten oder sich ehrfürchtig dem Portal näherten. Die zugehörigen Geräusche schienen ihn erst Sekunden später zu erreichen. Einen Moment lang fragte er sich, ob der Zauber schief gegangen war; ob er selbst irgendwie auf der anderen Seite des Portals gelandet war, während in Edinburgh alle nach ihm suchten.

Dann stolperte jemand über sein ausgestrecktes Bein, stützte sich an seiner Schulter ab und murmelte eine Entschuldigung. Liam sah ihm stirnrunzelnd nach. Der Gedanke, dass er im Gegensatz zu den meisten anderen Hexen noch immer auf dem Boden saß, sickerte langsam in sein Bewusstsein. Er konnte sich nicht erinnern, wie er dorthin gekommen war. Eben noch hatte er wie gelähmt zugesehen, wie Lindsay Charlie von dem Scott-Monument weggezerrt hatte, und dann ... ein heller Blitz und eine Druckwelle, die ihn von den Füßen geschleudert hatte. Er erinnerte sich, beim Anblick des Portals wieder aufgestanden zu sein. Von irgendwoher war Jack aufgetaucht, sein merkwürdiges, geflügeltes Kätzchen auf dem Arm, und sie waren gemeinsam zu Lindsay und Charlie gelaufen. Wie er es geschafft hatte, von da aus wieder auf dem Boden zu landen, war ihm ein Rätsel.

Sein rechtes Bein brannte, als er sich mühsam aufrichtete. Gefolgt von einem dumpfen Schmerz, der sich von seiner Schulter über die Hälfte seiner Brust und den gesamten Rücken zog. Die Finger seiner linken Hand waren so fest um seinen Zauberstab verkrampft, dass er es nicht schaffte, diesen Griff zu lösen.

„Liam." Eine Berührung an seinem Arm.

Als er sich umdrehte, ließ Charlie die erhobene Hand sinken. Das weiße Licht ihres Zauberstabs verlieh ihr eine geisterhafte Blässe, ihre Haare und Kleidung waren voller Dreck und Gras, zerzaust und zerrissen. Kratzer zogen sich über ihren Hals und ihre Arme, ihre Hände und Knie waren aufgeschürft. Aber das war es nicht, was Liam beunruhigte. Das war noch immer Charlie, die Kriegerin, die ihr Leben dafür gegeben hätte, ihre Welt zu retten. Die Charlie, die allein losgezogen war, um ihn aufzuspüren und dazu zu bringen, ihr zu helfen, ungeachtet aller Gefahren, denen sie sich damit ausgesetzt hatte. Die Charlie, die ihm geholfen hatte, seine Magie kennenzulernen und einzusetzen. Die Charlie, an deren Seite er mehrmals auf der Schwelle des Todes balanciert war, weil sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, alles und jeden zu schützen. Die Charlie, die ihn inmitten einer solchen Situation geküsst hatte.

Als sie ihn jetzt ansah, spiegelte sich pure Verzweiflung in ihrem Blick. Zwei, drei Atemzüge lang ließ sie zu, dass Liam sah, wie es ihr tatsächlich ging. Dann wandte sie den Blick ab, atmete tief ein und setzte eine unergründliche Miene auf. Dieser kurze Moment hatte gereicht, um ernsthafte Sorge in Liam zu wecken. Die verzweifelte Charlie kannte er noch nicht, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Das war kein gutes Zeichen.

„Ich habe versagt", sagte sie tonlos. „Es war alles umsonst. Ich habe es nicht geschafft, sie aufzuhalten. Und jetzt ist vermutlich nicht nur meine Welt so gut wie zerstört, sondern deine auch auf dem besten Weg dorthin."

Liam räusperte sich. Etwas in ihm drängte darauf, Charlie so fest an sich zu drücken, dass sie beide nicht mehr wussten, wo der eine aufhörte und der andere begann. Aber er hatte das starke Gefühl, dass sie ihm das übel nehmen würde. Nicht, weil ihr die Umarmung selbst unangenehm wäre, sondern weil sie dann die Fassade von Stärke nicht mehr aufrecht erhalten könnte.

„Wir", korrigierte er mit rauer Stimme. „Nicht du hast versagt. Wir. Du, ich, Jack, Lindsay, die anderen Custoren, sogar Adam. Wir haben es alle zusammen nicht geschafft, den Zauber aufzuhalten. Das ist nicht deine Schuld, Charlie."

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich schneller reagiert oder Fulton bei der ersten Gelegenheit ausgeschaltet hätte ... Vielleicht hätte auch das nicht gereicht, um den Zauber abzubrechen. Aber vielleicht wäre er dann in Tír na nÓg geblieben, anstatt in Edinburgh zu landen."

Liam öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch er fand nicht die richtigen Worte. Objektiv betrachtet, wusste Charlie ebenso gut wie er, dass niemand von ihnen allein die Schuld an diesem ganzen Chaos traf. Abgesehen vielleicht von seinem Onkel, der den verfluchten Zauber überhaupt erst in Gang gesetzt hatte. Aber Charlie hatte es zu ihrer persönlichen Mission gemacht, Tír na nÓg zu retten. Egal, wer noch daran beteiligt war, sie würde sich immer die Schuld dafür geben, daran gescheitert zu sein.

„Was tun wir jetzt?", fragte er stattdessen.

„Ich weiß es nicht", antwortete sie hilflos. „So weit habe ich nie gedacht. In meinen Überlegungen war nie Platz für ... diesen Fall."

„In meinen dafür schon", sagte Lindsay hinter ihnen. „Obwohl es mir auch lieber wäre, wenn das diejenigen tun würden, die für solche Dinge zuständig sind."

Edinburghs Hexen 2 - Magieverderben (Leseprobe)Where stories live. Discover now