2. Charlie

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Ich ließ Liam mit einer eigenartigen Mischung aus Frustration und Hoffnung zurück. Wenn ich ehrlich war, hatte ich nicht daran geglaubt, ihn sofort davon überzeugen zu können, mit mir zu kommen. Nicht, nachdem Menschen, die ihm deutlich näher standen als ich, bereits daran gescheitert waren. Bevor ich mit ihm gesprochen hatte, hatte ich nicht verstanden, was ihn dazu bewegte, sich zu verstecken. Jetzt kannte ich seine Beweggründe, aber das war nur unwesentlich besser. Irgendwie waren wir wieder an einem Punkt angelangt, den wir meiner Meinung nach schon längst hinter uns gelassen hatten – und ich hatte keinen Schimmer, wie ich ihn diesmal von dort wegbekommen sollte.

Meine ganze Hoffnung lag darauf, dass meine Worte sehr wohl zu ihm durchgedrungen waren. Wenn ich Glück hatte, würden sie ihn so lange verfolgen, bis er sich ernsthaft mit ihnen auseinandersetzte und erkannte, dass ich recht hatte.

Jack wartete an der nächsten Kreuzung auf mich. „Ich habe dir gesagt, dass das nicht funktionieren wird."

„Es war einen Versuch wert. Und du weißt genauso gut wie ich, dass wir ihn brauchen. Die Menschen verstehen nicht, warum wir ihnen einen Monarchen vorstellen, der sich danach vom Erdboden auflöst."

Ich schob meinen Zauberstab in die Innentasche meiner Jacke, als uns eine Gruppe Schüler entgegenkam. Sie wichen auf die andere Seite der Straße aus, blieben stehen und hoben ihre Handys. Ich drehte mich weg. Noch eine Sache, an die ich mich auch nach einer Woche nicht gewöhnt hatte. Auch wenn die Aufmerksamkeit dieses Mal nicht vorrangig mir gelten dürfte. „Wir würden deutlich unauffälliger sein, wenn du Fluffy nicht herumfliegen lassen würdest."

Das geflügelte Kätzchen landete auf Jacks Schulter und bedachte mich mit einem finsteren Blick, als wüsste es genau, wovon ich gesprochen hatte. Dann entdeckte es einen Vogel auf einem Fenstersims und hob wieder ab.

„Die Leute mögen Fluffy." Er zuckte mit den Schultern, als wäre damit alles gesagt.

Vielleicht war es das auch. Es gab noch immer keine klaren Regeln, was die ehemaligen Bewohner von Tír na nÓg hier in Edinburgh tun durften und was nicht. Ginge es nach der Regierung der Menschen, würden wir alle in den behelfsmäßigen Flüchtlingsunterkünften sitzen und darauf warten, dass etwas anderes passierte. Es gab so viel, was getan, so viele Fragen, die geklärt werden mussten – und nichts geschah, weil unsere Leute es nicht schafften zu entscheiden, wer für uns sprechen durfte und wer nicht.

Noch war alles friedlich verlaufen, doch ich bezweifelte, dass das noch lange so bleiben würde. Früher oder später würden die ersten Hexen auf den Gedanken kommen, dass es ein paar hübsche Häuser in Edinburgh gab, die im Gegensatz zu ihren eigenen noch standen. Oder jemand stritt sich mit ein paar Menschen und die Situation eskalierte derart, dass Magie als Waffe eingesetzt wurde.

Um nicht noch mehr Furcht als ohnehin zu verbreiten, vermieden die meisten von uns es, vor den Menschen Magie zu nutzen. Das Ministerium für Kontakte zur Menschenwelt – MKM – empfahl für längere Aufenthalte unter Nicht-Hexen, sowohl Zauberstab als auch jegliche magische Gegenstände zu verstecken, am besten überhaupt nicht mit sich herumzutragen. Aber sie bestanden auch darauf, das Gedächtnis von allen Menschen zu manipulieren, die Zeugen von Magie geworden waren. Und das war mit Entstehen des Portals komplett hinfällig geworden.

„Wenn wir wenigstens etwas tun dürften", murmelte ich. „Wir waren so kurz davor, den König und seinen wahnwitzigen Zauber aufzuhalten. Es ist nicht fair, dass wir jetzt von allem ausgeschlossen werden."

Jack brummte etwas Zustimmendes. Wir hatten mehrmals versucht, an den Besprechungen der älteren Hexen teilzunehmen, und waren jedes Mal abgewiesen worden. Angehende Custoren waren und blieben Schüler, denen man nichts anvertraute. Egal wie viel sie in den letzten Monaten geleistet hatten.

Edinburghs Hexen 2 - Magieverderben (Leseprobe)Where stories live. Discover now