Kapitel 5 ~ Die Hintergründe

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„Möchtest du eigentlich nicht wissen, warum ich dich entführt habe Herzchen?"

Finn zuckte mit den Schultern und sah zu, wie Kirian ihr die Fessel wieder anlegte. Sie kam sich mittlerweile vor wie ein Hofhund, den man angekettet hatte. Wenigstens konnte sie sich etwas bewegen, sonst wären ihr wahrscheinlich schon die ersten Körperteile wegen eines Blutstaus abgefault.

Es fühlte sich seltsam an, als Kirian die Erde wieder an ihr herunter rutschen ließ. Augenblicke später war der Boden wieder so glatt wie vorher. Sehnsüchtig dachte Finn daran, wie schön es wäre wenn auch sie so sorglos mit ihren Fähigkeiten umgehen könnte.

Statt weiter ihren Wünschen nachzuträumen, richtete sie ihren Blick wieder auf Kirian. Auffordernd hob sie eine Augenbraue. Kirian lachte freudlos und schüttelte den Kopf. „Herzchen, du bist seltsam."

Beiläufig fuhr er sich durch sein zerzaustes Haar und setzte sich Finn gegenüber. „Du brauchst wirklich keine Angst haben. Wenn ich mein Ziel erreicht habe, bist du wieder frei. Sie es als eine Art Urlaub an."

Finn unterdrückte das sarkastische Lachen, das sich in ihrer Brust sammelte und dachte: Hab keine Angst vor mir, kleine Maus, sagte die Katze, ehe sie den Nager fraß.

Kirian zuckte mit den Schultern, als Finn keine Reaktion zeigte. Von einem Augenblick auf den anderen schien sein Gesicht um Jahre zu altern. „Dein Vater handelt unter anderem mit Erzen aus den Bergen bei Jukkar. Sein Geschäftspartner dort ist ein Mensch namens Malius."

Kirian starrte auf die schartige Tischplatte. „In seinen Minen lässt er Waisenkinder arbeiten, vornehmlich Gnome. Er lässt sie so lange schuften, bis sie sich nicht einmal mehr auf den Beinen halten können." Wut kroch in seine traurigen Gesichtszüge. „Jeden Monat sterben wegen diesem Bastard unschuldige Kinder, die ihr Leben noch vor sich hatten."

Kirian hob den Kopf und durchbohrte Finn mit seinem Blick. „Ich war selbst eines dieser Kinder. Doch vor einigen Jahren gelang es mir zu entkommen." Er atmete zitternd ein, ehe er weiter sprach. „Ich hatte eine kleine Schwester, die nach dem Tod meiner Eltern bei Verwandten untergekommen ist. Für mich war kein Platz, ich musste ins Waisenhaus. Als ich aus dem Minen raus war, wollte ich sie suchen. Nach Monaten fand ich heraus, dass sie auch in den Minen gelandet war."

Kirian schwieg einige Augenblicke. Finn fühlte sich unbehaglich. Wie hatte sie sich nur jemals über meine Kindheit beschweren können?

„Ich ging zu Malius und flehte ihn an, meine kleine Schwester frei zu lassen. Doch er wollte Geld, das ich nicht hatte. Nach einem Jahr hatte ich endlich die erforderliche Summe zusammen. Aber es war zu spät. Rika war schon gestorben."

Finn konnte sehen, wie Kirian um Beherrschung kämpfte. Sie selbst schluckte an dem Kloß in ihrem Hals vorbei. „Sie war erst elf, hatte das ganze Leben noch vor sich."

Er wollte nur ihr Mitleid erregen. Sie durfte nicht den Fehler machen, darauf hereinzufallen. Doch es war schwer. Finn selbst hatte nie Geschwister gehabt, weil ihre Mutter nach ihrer Geburt nicht mehr schwanger werden konnte.

Finn biss sich auf die Zunge, um nichts zu sagen. Kirian fuhr sich übers Gesicht. „Leider musste ich feststellen, dass Malius sich das Schweigen aller im Tal und in den Bergen erkauft hatte. Doch ich wusste, was seine empfindlichste Stelle war: Geld."

Finn unterdrücke den Impuls zurückzuweichen, als er sie ansah. Seine Augen schienen aus grünem Feuer zu bestehen. „Und dein Vater ist derjenige, der es ihm zahlt. Er finanziert den Abbau mit seinen Geldern. Wenn diese Geldquelle versiegt ist, muss er die Minen schließen."

Finn runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vater Gelder an einen Mann zahlte, der unschuldige Kinder ausbeutete.

Kirian fuhr mit seiner Erzählung fort. „Leider wollte dein Vater nicht auf mich hören. Und da kamst du ins Spiel." Kirian lächelte sie anzüglich an und Finn fühlte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. „Eine hübsche kleine Nymphe, Lösung all meiner Probleme."

Finn atmete tief ein und aus. Hatte sie es doch gewusst, dass es nicht um sie ging. Nie ging es nur ums sie. E war zum Mäusemelken. Resigniert wandte sie den Blick ab. Der Gedanke, dass sie doch in den Tempel hätte gehen sollen, deprimierte sie.

~

Finns gesamter Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt, als sie ruckartig aufwachte. Ihr Atem ging schnell und ihr Herz raste in ihrer Brust. Verwirrt sah sie sich um – doch außer Kirian, der auf der anderen Seite des Raums schlief, war niemand da.

Bei allen Göttern, dieser Albtraum war ja noch schlimmer gewesen als der letzte Benommen strich sich Finn mit ihren gefesselten Händen ihre Haare aus dem Gesicht. Die Bilder des Traums spukten ihr noch immer im Kopf herum. Gefangen in einem dunklen Wirbel aus Blut, Angst, Schreien und Tränen hatte sie beinah den Verstand verloren.

„Rika...", stöhnte Kirian halblaut und warf seinen Kopf von einer auf die andere Seite. Finn fühlte ein Kribbeln unter der schäbigen Strohmatratze.

Oje, durchfuhr es ihre Gedanken, als sie einen kleinen Riss im Boden bemerkte. Sie konnte zusehen wie er wuchs, länger wurde und bald von einer Ecke des Zimmers in die andere reichte.

„Das ist nicht gut", murmelte sie.

Als sich der Spalt zusehends in die Breite wuchs, verfluchte Finn die Schicksalsgötter dieser Welt. Mit knackenden Gelenken stand sie auf und ging zu Kirian. Vorsichtig hockte sie sich einen halben Meter neben ihn – mehr ließ der Strick nicht zu. Finn legte beide Hände auf den Boden und horchte in die Erde hinein. Sie stieß einen wüsten Fluch aus, als sie das Ausmaß des Dilemmas erkannte: Kirian begann die Erde um das gesamte Haus zu kontrollieren. Sie konnte nicht eingreifen.

„Nein, tut ihr nichts..." Kirians Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, doch die Erde unter ihnen begann zu dröhnen. Finn, die mittlerweile sehr nah an dem Erdriss saß, stieß Kirian mit dem Bein an. Als er nicht reagierte, trat sie ihn fest gegen das Schienbein. Wie von der Tarantel gestochen richtete sich Kirian auf, packte Finns Fuß und zog sie zu sich heran. Durch den Strick wurden ihre Arme nach oben gerissen und sie lag lang gestreckt auf dem Boden.

Kirians Augen glichen denen eines gehetzten Tieres, als er sein Knie auf ihren Bauch drückte und die Hand an ihre Kehle legte. Vor Schreck vergaß Finn fast zu atmen – panisch erwiderte sie Kirians irren Blick. Ein klägliches Gurgeln entrang sich Finns Mund und sie versuchte vergeblich zu schlucken.

Augenblicklich ließ Kirian von ihrem Hals ab, entfernte sich jedoch nicht von ihr. „Was bei allen Göttern fällt dir ein, mich so zu erschrecken?"

Finn drehte sich auf die Seite und hustete. Vorsichtig rieb Kirian ihren Rücken, bis sie wieder frei atmen konnte. „Ich hätte dich umbringen können."

Finn war zu beschäftigt, um den sanften Tonfall seiner Stimme zu bemerken.

„Da...", krächzte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf die breite Furche, die mitten durchs Zimmer verlief. Kirian starrte verwirrt auf das, was er unabsichtlich getan hatte.

„Haben wir gleich." Beide Hände flach auf den Boden gelegt, schob er die beiden Ränder wieder zusammen. Ein letztes Wischen über die Erde, dann war nichts mehr von dem Graben zu sehen.

Wie eine Raupe versuchte Finn, sich wieder auf ihre Seite des Zimmers zurückzuziehen. Ihre Schultergelenke schmerzten und ihre Muskeln waren überdehnt. Sie zuckt zusammen, als sie zwei Arme um ihre Taille spürte.

„Du machst dich ja lächerlich. Lass dir helfen Herzchen." Finn kam sich vor wie eine Puppe, als er sie hochhob und auf ihren Strohsack legte.

Im schummrigen Licht, das durch das Fenster hereinfiel, sah Finn Kirians Zähne aufblitzen, als dieser grinste. „Wer hätte gedacht, dass diese Entführung so amüsant wird. Dir macht es doch auch Spaß, oder Herzchen?"

Finn kniff die Augen zusammen, holte tief Luft und – sagte nichts. Sichtlich enttäuscht rückte Kirian von ihr ab und seufzte.

„Weißt du, ich nehme alles zurück was ich über schweigende Frauen gesagt habe. Du hast eine so schöne Stimme, selbst wenn du nur damit fluchst."

Nahezu wie ein Pferd schnaubte Finn und drehte Kirian den Rücken zu. Was machte sie hier eigentlich? Sie ließ sich von seinem Charme einhüllen, hatte Mitleid mit ihm... Sie drehte durch, eindeutig. Er verdient es, einen Kopf kürzer gemacht zu werden.

Finn lauschte, wie Kirian sich auf sein Lager zurückzog. „Träum süß Herzchen." Finn biss die Zähne zusammen und wünschte sich mit aller Macht ein Hackbeil.

Finn - Die Nymphen von Mirus (3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt