01 | hold me close

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‹ Mimi Webb - Before I Go ›

Ihr blaues Haar wehte im lauen Herbstwind, während sie auf einer hohen Mauer balancierte. Letzte Woche war es noch blond gewesen, aber so war sie nun mal gewesen, immer für eine Überraschung zu haben.

Ich hielt ihre Hand, obwohl sie sie nicht zum Halt brauchte.

Ihre Schuhe hatte sie erst gar nicht angezogen. Sie trug nur ihr Lieblingssommerkleid. Eigentlich liebte sie jedes ihrer Kleider, aber das, das sie heute trug war mit Abstand mein Favorit.

Es war nicht sonderlich besonders, aber dafür umso schlichter, eben nicht zu aufdringlich. Auch das helle Blau war eher zurückhaltend und ließ genug Freiraum für ihren bunten Blumenstrauß an Charakter.

An ihrem Fußgelenk hatte sie zwei Venussymbole, die einander überschnitten, tätowiert. Sie hatte es sich mit dem Prototyp eines Kumpels selbst gestochen. Eigentlich war es furchtbar hässlich. Die Linien waren unregelmäßig und dick, aber sie liebte es. Also liebte ich es auch, irgendwie zumindest.

Es hatte sich auch entzündet, aber das hatte Elodie nicht gekümmert. Sie hatte nur die Sorge, es sich nochmal stechen zu müssen.

In der Gegenwart ihres Vaters trug sie immer Socken, die über ihre Knöchel ragten. Dabei war unwichtig welche Temperatur man auf dem Thermometer ablesen konnte. Er war der einzige gewesen, der es auf keinen Fall sehen durfte, obwohl er der meist tätowierteste Mensch war, den ich bisher gekannt hatte.

Auch mir hatte sie ein Kunstwerk auf meiner Haut verewigen wollen, aber ich hatte abgelehnt. Mittlerweile bereute ich diese Entscheidung.

Damals wollte ich nur einen Profi an meine Tattoos lassen.

Das war ihr erstes und einziges Tattoo. Sie wollte nie mehr, was ich noch nie nachvollziehen konnte.

Ich hatte mir bereits mehrere Tätowierungen, ohne das Wissen meiner Eltern, machen lassen. Sie dachten bislang ich hätte von dem Geld meinen Führerschein gemacht, denn ich allerdings immer noch nicht besaß.

Unter dem Tattoo befand sich das Regenbogenband, das ich ihr geschenkt hatte. Es war bereits zerfleddert und abgetragen und man konnte meinen es sei bereits Jahrzehnte alt. Dabei hatte sie es lediglich in keiner Situation ausgezogen. Es erlebte alles, was auch sie erlebte.

Dieser Gedanke hatte mich schon damals etwas neidisch gemacht.

Eigentlich war es als Armband gedacht, aber sie war noch nie für Armbänder zu begeistern gewesen.

Elegant wie eine Gazelle sprang sie von der Mauer und ließ dabei meine Hand los. Sie drehte sich mehrfach um ihre eigene Achse und lachte laut.

Wäre in dieser schmalen Gasse genug Platz gewesen, hätte sie sicher auch ein Rad geschlagen.

Als sie vor mir her hüpfte fiel mein Blick auf die Blutergüsse, die leider nicht, wie ich jedes Mal hoffte, unter den Spaghettiträgern verschwanden.

»Lass uns an den Bach gehen «, rief sie begeistert über ihre Schulter, wirbelte herum und griff nach meinen Händen.

»Da waren wir doch erst gestern «, erinnerte ich sie und hatte die Sorge, dass sie stolperte während sie rückwärtslief.

»Aber wer weiß, wann es das letzte Mal sein könnte «, erwiderte sie und wendete sich wieder von mir ab. Jedoch hielt sie eine Hand weiterhin fest in ihrer.

Natürlich gingen wir nicht schwimmen.

Elodie ließ sich stattdessen auf der großen Wiese fallen und pflückte Gänseblümchen.

Sie hatte eine Obsession nach diesen Dingern, aber ich hatte keine Ahnung warum.

Margeriten waren die unspektakulärsten und häufigsten Blumen, die mir bekannt gewesen waren. Wahrscheinlich mochte sie sie deshalb so sehr. Aber wie auch so vieles andere, hatte sie mich auch dies gelehrt zu lieben.

Manchmal war sie schon etwas eigen gewesen.

Sie war allerdings das ganze Gegenteil eines Gänseblümchens. Unfassbar kostbar, selten und einzigartig.

Elodie hatte mir Einblick in den Teil der Welt gezeigt, den ich ohne sie nie vermocht hätte zu sehen. Aber das aller wichtigste, was sie mir beigebracht hatte, war das Wissen wie es sich anfühlte aus vollstem Herzen zu lieben und geliebt zu werden.

Sie hatte es mir in unserer gemeinsamen Zeit nur ein einziges Mal gesagt, aber ich hatte es die ganze Zeit über gewusst. Sie musste es nicht laut aussprechen, sie hat es mich in ihrem Tun und Handeln spüren lassen und in ihren Blicken sehen lassen.

Ich hatte mich neben sie ins zentimeterhohe Gras gelegt und die Augen geschlossen. Die Sonne kitzelte meine Nasenspitze, ich genoss die Wärme, das Wissen, dass das Mädchen, das ich über alles liebte, direkt neben mir war und ihren ganz eigenen Geruch, den der Wind immer wieder in meine Richtung trug.

Neben mir regte sich etwas und ich öffnete vorsichtig eines meiner Augen.

Elodie rutschte im Gras herum und versuchte sich so zu drehen, dass sie mir den Blütenkranz auf meinen Kopf setzten konnte.

Also richtete ich mich auf und ließ es geschehen.

Sie liebte den Kontrast zwischen den weißen Blüten und meinen dunklen Haaren.

Zufrieden betrachtete sie mich und lächelte. »Du bist eine wunderschöne Prinzessin «, lachte sie leise und lehnte sich vor, um mir einen Kuss zu geben.

Ihre Lippen schmeckten leicht salzig und waren etwas trocken, aber ich konnte dennoch nie genug von ihnen kriegen.

Seufzend legte sie ihre Stirn an meine. Ich betrachtete ihre geschlossenen Augenlider und den langen Schatten, den ihre Wimpern auf ihre Wangen warfen.

»Wollen wir einen Spaziergang machen? «

Ich nickte und sah ihr dabei zu wie sie aufsprang und sich den Dreck von ihrem Kleid klopfte.

Etwas mühselig rappelte ich mich auf und griff nach ihrer Hand, die sie bereits nach mir ausgestreckt hatte.

Sie atmete tief ein als wir dem Sonnenuntergang entgegenliefen. »Alles in Ordnung? «, erkundigte ich mich besorgt.

»Ja, nur sieh dir das an, schon wieder ist ein Tag vorbei. «

Ich lächelte ihr aufmunternd zu. »Noch nicht ganz. Du vergisst jedes Mal die Nacht, die uns noch bleibt. «

Ihre braunen Augen funkelten im orangen Licht der untergehenden Sonne. »Ach Annamae «, seufzte sie fröhlich. »Was würde ich nur ohne dich tun? «

Lachend legte ich einen Arm über ihre Schultern. »Draufgehen «, witzelte ich und drückte ihr im Gehen einen Kuss auf die Schläfe. 

FreigeistWhere stories live. Discover now