Ich (ohne dich)

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Die Welt geht unter.

Ich habe heute morgen Müsli mit aufgetauten Beeren gefrühstückt. Trocken. Die Milch hebe ich mir für den Kaffee auf - der schmeckt nämlich scheußlich ohne und ich weigere mich das alles unter Koffeinentzug zu ertragen - und ich weiß nicht, ob der Supermarkt noch offen hat. Oder eher ob er schon leer geplündert wurde.

Wen juckt noch Geld oder Gesetz?

Seitdem liege ich auf dem Bett, starre die Deckenlampe an. Eine der Glühbirnen ist vor ein paar Wochen durchgebrannt und ich habe immer wieder vergessen sie zu wechseln.

Jetzt ist es eh zu spät. Ich werde sie nicht mehr wechseln.

Die Welt geht unter und meine verdammte Deckenlampe wird niemals mehr vollständig funktionierende Glühbirnen haben.

Ist vielleicht auch egal. Keine Ahnung wie lange wir überhaupt noch Strom und Licht haben werden.

Wahrscheinlich sollte ich also die übrigen Stunden ein wenig besser nutzen. Noch ein Statement oder so auf die Erde setzen. Aber, seien wir mal ehrlich – entweder ich hab die letzten Jahrzehnte genug gelebt oder nicht, jetzt ändert sich daran auch nichts mehr. Jetzt bleibt nichts mehr übrig.

Vor ein paar Tagen hätte ich vielleicht noch anderes darüber nachgedacht.

Aber da dachte ich auch, ich würde spätestens an Weihnachten meine Familie wiedersehen. Bis dahin waren es zwar noch ein paar Monate, aber die wären schon vergangen. Natürlich hatte es die Warnungen bis dahin schon gegeben, aber so richtig ernst genommen hatte sie niemand. Selbst wenn ich es getan hätte – mein ursprüngliches Flugticket ließ sich nicht stornieren und ich hatte kein Geld, um so spontan ein neues zu kaufen. Also wartete ich stattdessen, dass sich alles wieder beruhigen würde. Vielleicht wäre es für die nächsten Wochen ein bisschen ungemütlich geworden, aber irgendwann, ja irgendwann, wäre es doch wieder vorbei gewesen.

Stattdessen ist jetzt die ganze Welt vorbei.

Samstags kam die Meldung. Man hätte sich verschätzt, es ließe sich nicht aufhalten. Drei Tage hätten wir vielleicht noch. Die Nachrichten liefen überall in Dauerschleife. Ich wartete darauf, dass jemand die Verarsche entlarvt. Dass das Zeichen irgendeiner Hackerorganisation erscheint und alles als soziales Experiment deklariert. Vielleicht eine gottverdammte Warnung an die Menschheit oder so.

Aber als die Stimme endlich abbricht, dann nur, weil meine Eltern mich anrufen.

Ob es wahr ist, wollen sie wissen.

Ob das wirklich passiert, wollen sie wissen.

Ob ich es schaffe rechtzeitig zurück zukommen, wollen sie wissen.

Ich halte den Anruf, tippe hektisch irgendwelche Worte in Google ein, treffe nur auf abgrundtiefe Panik.

Ja, ja, nein.

»Es ... es fliegen keine Flugzeuge mehr«, brach es irgendwann aus mir heraus.

Diesmal erzählte mir mein Vater nicht von seiner neusten Verschwörungstheorie. Diesmal versprach mir meine Mutter nicht, dass alles schon wieder gut werden würde. Diesmal waren sie still, ganz still.

Und dann fingen sie an zu weinen.

Sie weinten nicht, weil wir alle sterben würden. Sie weinten, weil sie es ohne mich tun würden.

»Ich liebe euch«, versprach ich ihnen, immer wieder, »ihr müsst nichts bereuen.«

Und doch bereuten wir gemeinsam jede einzelne Entscheidung, die dazu geführt hatte, dass wir nun nicht zusammen waren.

»Wir lieben dich«, versprachen sie mir, immer wieder, »wir reden die ganze Zeit mit dir.«

Die Verbindung brach ein paar Stunden später mitten im Satz ab.

Ich starrte das dunkle Handydisplay an, wählte voller Angst erneut. Nichts. Entweder waren die Verbindungen überlastet oder sind schon zusammengebrochen.

Nochmal. Nichts.

Nochmal. Nichts.

Ich scrollte durch die Nachrichten, die ich alle während des Telefonats bekommen hatte. Freunde, Bekannte, Abschiede. Eine von meiner Mitbewohnerin, die das Wochenende ein paar Autostunden entfernt bei ihrer eignen Familie verbrachte und am nächsten Tag zurück gekommen wäre.

ich kann hier nicht weg, es tut mir so so so leid

Ich wollte ihr antworten, ihr versichern, dass es okay war, dass ich es verstand, weil ich garantiert nicht das Arschloch sein würde, das ihr ein schlechtes Gewissen machte, weil sie lieber bei ihrer Familie als bei mir sein wollte.

Doch auch meine Antwort kam nicht mehr durch. Ich versuchte es erneut, wählte die unterschiedlichsten Nummern.

Nichts, nichts, nichts.

Jetzt ist heute und ich liege im Bett.

Morgen früh geht die Welt unter und ich bin alleine.

Bis zum Ende der WeltWhere stories live. Discover now