KAPITEL EINS

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»Bitte tu das nicht!«

Jonas sieht mich aus großen, himmelblauen Augen an, die in glasklaren Tränen schwimmen ... mit jeder Sekunde, die verstreicht, steigt der Pegel.

Ein Mann, der weint.

Ein Mann, den ich zum Weinen gebracht habe.

Er will meine Hände ergreifen, doch ich stoße sie erschrocken weg – genauso gut hätte ich ihm ins Gesicht schlagen können.

Schmerz.

Ich sehe ihn in seinen Augen, in seiner Miene, in allem.

Und ich bin diejenige, die ihm diesen Schmerz zufügt.

»Nancy! Bitte, du, du ... brichst mir das Herz!«

Jonas meint es ernst. Ich breche ihm wirklich das Herz.

Ich seufze lautlos. Meine Brust wird enger und enger. Ich versuche, mich zu wehren, gegen seinen Schmerz, den wir nicht länger teilen. Ich versuche, mich dagegen zu wehren, diesem zu folgen, wehrlos, wie eine Motte dem wandernden Licht folgen würde.

Und ich tue es. Weil ich es will. Weil ich muss.

Ich tue es für uns ... als Individuen, nicht als die Einheit, die wir mal waren und nun nicht mehr sind.

»Jonas, wir zwei gehören einfach nicht mehr zusammen und das schon seit einer ganzen Weile ... das weißt du auch, ganz tief in dir drinnen. Du wirst immer ein ganz besonderer Mensch für mich sein – immer. Aber wir werden von jetzt an getrennte Wege gehen. Ich ... wünsche dir alles Gute dieser Welt.«

Ein allerletztes Mal küsse ich ihn auf die Stirn. Versuche, durch die Berührung meiner Lippen auf seiner Haut meinen Gefühlen einen besseren Ausdruck zu verleihen, als ich es mit Worten konnte – er lässt es wie betäubt geschehen.

Dann drehe ich mich um und gehe, die milde Frühherbstsonne im Rücken. Wohin? Ich habe absolut keine Ahnung.

...

Ich habe das Richtige getan. Ich weiß es. Leider fühlt es sich aber kein bisschen so an.

Jonas und ich sind vor genau zwei Jahren zusammengekommen. Und wenn ich sage ›vor genau zwei Jahren‹, dann meine ich das auch so. Heute wäre unser zweiter Jahrestag gewesen. Anstatt diesen mit ihm zu feiern, habe ich die Beziehung beendet.

Wer kann schon von sich behaupten, genau zwei Jahre in einer Beziehung gesteckt zu haben?, denke ich bitter und lache humorlos auf. Die Tatsache, dass ich das Wort stecken benutze, sagt leider auch einiges.

Jonas ist ein guter Mann. Das ist er wirklich. Aber die Chemie zwischen uns stimmte schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Wir sind hervorragend miteinander ausgekommen, haben nie gestritten ... aber es fehlte einfach das gewisse Etwas, das Feuer.

Auf jeder Veranstaltung, jeder Party, bei der wir als Paar auftraten, habe ich mich in seinen sanften Armen gefühlt wie in einem Käfig.

Das schlechte Gewissen und die Abneigung gegen diese seichte, sichere Beziehung haben sich stets einen erbitterten Kampf in meinem Inneren geliefert. Bis ich heute den Mut aufbrachte, sie zu beenden.

Der frühherbstliche Wind fährt durch meine Haare und bläst mir eine Wolke goldbrauner Blätter durch die Beine. Das leise Knistern des Laubes unter meinen Sohlen beruhigt mich auf eine merkwürdige Art und Weise.

Kurz fällt mein Blick auf meine Hände mit den schwarz lackierten Nägeln. Sie zittern. Wütend balle ich sie zu Fäusten und beiße die Zähne zusammen. Die Nägel meiner rechten Hand bohren sich schmerzhaft in meine Handfläche. Die der linken sind dafür zu kurz. Das liegt daran, dass ich im örtlichen Musikverein Flamenco-Gitarre spiele. Die Nägel der linken Hand müssen kurz sein, um sauber klingende Griffe formen zu können, wohingegen die der rechten mit ihrer Länge die Saiten spielen. Es sieht etwas ungewöhnlich aus, aber ich habe mich schon lange dran gewöhnt. Was andere davon halten, kann mir egal sein.

Genervt streiche ich mir einige lange Strähnen meines leicht rotstichigen, braunen und komplett glatten Haares aus dem Gesicht. Wie es mich nervt. Vielleicht sollte ich sie mal abschneiden? Und diesen Pony rauswachsen lassen?

Wenn das nicht der richtige Moment für einen Neuanfang ist, weiß ich auch nicht.

Ich schüttle den Kopf. Das weiß doch jeder, dass man nicht zum Friseur sollte, kurz nachdem die Beziehung beendet ist – das Resultat sieht einfach immer scheiße aus. Kurzschlussentscheidungen und so.

Spätestens als mir der Gedanke kommt, ich könne mir doch die Haare bleichen und anschließend rosa färben, weiß ich, dass ich nicht mehr ganz ich selbst bin. Vorerst lasse ich meine Frisur mal lieber, wie sie ist.

Was ich jetzt wirklich tun sollte, ist nach Hause zu gehen. Ivy wird mir ein gutes, warmes Gefühl geben – das ist ihre Spezialität. Sie könnte sich das guten Gewissens auf die Visitenkarte schreiben lassen: Ivy Faun, professionelle Künstlerin und Trostspenderin.

Ihre Gegenwart hat auf mich stets die gleiche Wirkung wie eine flauschige Decke, heiße Schokolade und dazu ein prasselndes Kaminfeuer.

Ich bin froh, so eine tolle Schwester zu haben. Ich liebe sie über alles.

Kurzerhand krame ich nach meinem Handy, wähle ihren Kontakt an und tippe auf ›Anrufen‹. Es klingelt stolze zehn Mal, bis ich ihre Stimme höre. »Nancy, was gibt's?«

»Hi, ich ... wollte dich einfach anrufen.«

Schweigen am anderen Ende. Es ist ein misstrauisches Schweigen, ein nachdenkliches Schweigen. Ivy war schon immer sehr feinfühlig.

»Schwesterchen, was ist los?«, fragt sie alarmiert. Im Hintergrund höre ich irgendeine Achtziger-Musik – klingt für mich nach den Dire Straits. Sie hört immer Musik, wenn sie malt. Das bedeutet, dass sie arbeitet. Sie hat von einer großen Ausstellung in Düsseldorf erzählt und die beginnt in zwei Wochen. Gerade ist sie wahrscheinlich dabei, das letzte Gemälde zu vollenden.

»Ähm, ich wollte dich nicht beim Arbeiten stören.«

Ein leises Schnauben dringt durch den Hörer. »Du störst mich doch nicht!«

»Aber deine Ausstellung ...«

»Machst du Witze? Die ist in zwei Wochen, die Stücke habe ich schon längst fertig gestellt!«

»Ah, okay«, sage ich lahm. Ich kenne mich wirklich nicht besonders gut im zeitgenössischen Kunstbetrieb aus, dafür dass meine Schwester relativ gut in der Szene unterwegs ist, denn man kann sie guten Gewissens als angesehene Künstlerin bezeichnen. Sie verdient genug, um uns einen ganz netten Lebensstandard zu ermöglichen.

Ich arbeite als Barista auf Vierhundertfünfzig-Euro-Basis. Mein Beitrag zur Haushaltskasse ist also nicht so hoch, wie ich es gern hätte. Aber jedes Mal, wenn mich das schlechte Gewissen packt, redet Ivy es mir vehement aus.

»Du studierst Germanistik und arbeitest hart. Mach deinen Verdienst nicht an Zahlen fest«, ist das, was sie dann immer zu sagen pflegt.

»Ha, stell dir vor ...« Sie verstummt und ich höre ein leises Rascheln und Schritte auf Holztreppen. Dann spricht sie weiter: »Ich hab da so 'nen Typen auf der Straße aufgegabelt ...«

»Ivy, was zum ...?!«

Genervtes Stöhnen ertönt.

»Es ist nicht das, was du denkst, jetzt lass mich doch mal ausreden! Er steht mir Modell für ein neues Gemälde. Ich fand ihn einfach so unglaublich ... ästhetisch. Weißt du, was ich meine?«

»Ehrlich? Nein.« Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Schwester je Menschen in ihrem Atelier gehabt hätte, die Modell gestanden sind. Dieser Kerl muss also was ganz Besonderes sein.

Diese Saiten zwischen uns (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt