1.Kapitel

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„Das tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir uns bewusst sind, ist das Erlebnis des Mystischen. Aus ihm allein keimt wahre Wissenschaft."

Albert Einstein

*  *  *

Der Regen prasselte unerbittlich auf sie nieder, aber das schienen sie gar nicht zu bemerken. Wie sollten sie auch, in dem tranceartigen Zustand in dem sie sich befanden.

Ihre knöchellangen, weinroten Mäntel hafteten völlig durchnässt an ihren Körpern. Sie wirkten beinahe wie hautenge Neopren-Anzüge. Als hätten die Menschen dort die Absicht, sich bei diesem Wetter in die rauen Wellen des dunkelgrauen Meeres zu stürzen, welches sich tief und unergründlich hinter ihnen ausbreitete.

Es nahm die gesamte Fläche bis zum tristen Horizont ein. Es schien die restliche Welt um sich herum verschluckt zu haben.
Wie ein hungriges Ungeheuer.
Das Meer. Es war Emery noch nie lieb gewesen. Es hatte sie nie in den Zauber fallen lassen, mit dem es wohl andere Menschen bewunderten.
Nein, sie war nie seiner trügerischen Schönheit an warmen Sommertagen verfallen.

Noch immer stand die Menschenmasse, in diesem viel zu perfekten Kreis aus hervorstechenden, roten Gestalten.
Wie tief verwurzelte Bäume.
Die Unterarme hielten sie starr, im neunzig Gradwinkel vom Körper.

Die Blicke richteten sie jeweils auf ihre Gegenüber.
Dennoch, schien es als würden sie sich nicht wirklich gegenseitig anschauen.
Man könnte sagen ihre Blicke hafteten aufeinander und dennoch trafen sie sich nicht.
Ja, es sah fast so aus als währen diese absonderlichen Menschen physisch anwesend, geistlich jedoch nicht.
Wahrscheinlich waren sie mit ihren Gedanken - die kein Außenstehender zu ergründen vermag - weit weg.

Weg von diesem faden Ort, an der grauen Küste. Alles hier wirkte auf seine eigne Art bedrohlich, und strahlte das ganze Gegenteil von einer vertrauten, oder sogar heimatlichen Atmosphäre aus.

Was ihre Eltern hier her gezogen hatte, wusste Emery bis heute nicht.

Es war bereits Nacht.

Der von grauen, dichten Wolken verdeckte Himmel versperrte den freien Blick auf die Sterne.
Der ebenso graue, feine Schleier erinnerte an eine feingewebte Tüllschicht eines alten Brautkleides.
Dieser graue Schleier der nur allzu oft in der Luft hing, der alles und jedem die Farbe zu entziehen schien.

Er vernebelte Emery nun die klare Sicht auf das Geschehen, da unten an den Klippen. Dort wo unter ihnen die riesigen Wellen an den ebenso großen Felsen brausend zerschellten.

Emery sah hinunter.
Auf diese eigenartige „Messe", welche diese Leute des Öfteren auf der großen Wiese, nicht allzu weit von ihrem Haus abhielten.
Jene Messe, der sie nach all diesen Jahren, noch immer nicht auf den Grund gekommen war.

Emery hielt ihr rechtes Ohr an den offenen Schlitz des Fensters um die Worte der Leute besser oder eher überhaupt wahrnehmen zu können. Alles, was sie jedoch hörte war der laute Wind und der starke Regen, welcher ihr ums Ohr pfiff.

Der Wind, der durch den Spalt kam, wirbelte Emerys schwarzes Haar wild durcheinander.

Sie durchzog ein kalter Schauer, der sich jedoch wieder legte, als sie hastig das Fenster schloss.
Um der Kälte nicht die Chance zu geben sich noch mehr in ihrem Zimmer zu verbreiten und einzunisten.
Die blasse Haut ihrer Arme war übersät mit Gänsehaut, die ihre Haare zu Berge stehen ließen.

Emery hielt erschrocken die Luft an, und hoffte inständig, dass niemand gehört hatte wie sie das Fenster geräuschvoll geschlossen hatte.
Als es - wie erwartet - keine Reaktion der Leute gab, stieß sie die Luft erleichtert wieder aus. Emery konnte nur den Kopf über sich selbst schütteln.
Wie um alles in der Welt hätten sie das hören auch sollen. Dachte sie sich.

Die VerschwörungWhere stories live. Discover now