1. Die Verstoßung - Der Anfang

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Langsam gleiten meine Hände über meine Schultern, hin zu meinem Schlüsselbein, zu meinem Bauch. Dort machen sie eine Pause. Ich zeichne die Konturen meiner Taille nach, ich drücke etwas in die Haut hinein, spüre die Rippen und die Hüftknochen. Sie stechen hinaus.

Es fühlt sich wundervoll an!
Meine Hände reisen weiter zu den Oberschenkeln und fassen sie an.
Glatt und rund. Ich greife fester zu.
Fett! Alles fett! Mein ganzer Körper besteht aus fett!

Ich fühle mich ekelig und fange wieder an zu weinen. In meinem Bett liegend, ziehe ich die Decke bis über den Kopf und hoffe, dass das alles nur ein Traum ist.

"Mäuschen! Wir müssen in einer halben Stunde los! Mach dich bitte fertig!", dröhnt es durch meine Tür. Meine Mutter. Träge setze ich mich auf und gucke an mir hinunter. Was meine Augen da sehen ist nicht besonders schön: Ein schwabbeliger Bauch. Ich könnte schon wieder anfangen zu heulen, aber ich stelle mich schnell hin, um das Elend nicht weiter ertragen zu müssen. So ist es erträglicher.

Aber ich kann mich doch so nicht meiner Verwandtschaft zeigen!

Ich bin hässlich. Mein Gesicht ist übersät mit Pickeln und Muttermalen. Viel wird von den vielen strohigen, schulterlangen, straßenköterblonden Haaren verdeckt.

"Beeil dich! Ist schließlich dein Geburtstag!", schon wieder ruft mich meine Mutter.

Schnell suche ich mir einen schwarzen Rock raus, der bis über die Knie geht, eine schwarze Strumpfhose und ein schwarzes lockeres Oberteil mit silberner Aufschrift.
Schwarze Kleidung lassen einen dünner wirken. Ich blicke in meinen Spiegel: Es hat sich nichts geändert. Ich sehe immernoch schrecklich aus, aber Augen zu und durch.

"Freust du dich schon auf das chinesische Essen?", strahlt meine Mutter mich an.

"Ja", lüge ich.

Und mein Vater: "Gehst du auf eine Trauerfeier oder warum bist du so angezogen?"

"Papa, sowas sieht elegant aus."

"Naja, ist ja deine Sache."

Auf dem Weg zu meinem früheren Lieblings Chinesen überlege ich, wie ich den Abend am Besten überstehe. Ich hasse meine Verwandtschaft. Ich kann sie nicht ausstehen.

"Alles Gute zum Geburtstag!"

"Herzlichen Glückwunsch!"

"Zur Volljährigkeit alles Liebe!"

Ich bedanke mich immer wieder und nehme Geschenke entgegen. Eigentlich das Beste an Geburtstagen. Mal sehen wie viel Schund ich diesmal bekomme.
Aber nun gibt es Essen. Essen. Essen. Essen.
Die Hälfte meiner Familie mag kein Chinesisch. Genau deswegen habe ich mir das zum Geburtstag von meinen Eltern gewünscht, die beide begeistert von der Idee waren.
Ich sitze mitten am Tisch zwischen meinen Eltern. Selbst meine drei Freunde, die ich auch noch eingeladen habe, scheinen teilnahmslos.
Immer wieder aufstehen, essen holen,.hinsetzen, essen, trinken und wieder von vorne.
Meine Laune verschlechtert sich dramatisch. Keiner spricht mit mir, dabei bin ich doch die Hauptperson! Aber mehr als die Begrüßung und die Glückwünsche, bekomme ich wohl nicht mehr zu hören.
Ich esse. Esse. Esse. Esse.

Langsam wird mir schlecht. Inzwischen bin ich bei meinem fünften Gang und der Nachtisch und eine Suppe fehlen noch. Das ist ein kleiner Tick von mir, weshalb ich von meiner Verwandtschaft auch doofe Blicke abbekommen werde: Nach dem Nachtisch gibt es noch eine Suppe, weil ich die Suppe hier eigentlich liebe.
Aber soweit bin ich noch nicht. Der größte Teil der Gäste ist schon fertig mit essen und unterhalten sich, allerdings nicht mit mir.
Ich gehe erst einmal auf Toilette. Mir ist super schlecht.
Als ich wieder zum Tisch gehe, bin ich erleichtert. So erleichtert, dass ich wieder weiter essen kann. Was würde ich nur ohne meine Freundin mia tun.
Ich hole mir noch zwei Gänge, dann den Nachtisch und die Suppe.
Immernoch nicht hat jemand außer meine Eltern und meine Freunde mit mir geredet. Noch nicht mal angeguckt haben sie mich. Was habe ich ihnen denn getan? Ich hasse meine Geburtstage. Von Jahr zu Jahr wird es ätzender.
Ich will nach Hause. Meine Eltern merken das hier etwas nicht stimmt, das weiß ich. Besonders meine Mutter wird sich spätestens wenn wir zu Hause sind über die Verwandtschaft aufregen. Mein Vater wird sich aus allem so gut wie möglich raus halten und versuche das Bestmöglichste in dem Abend zu sehen.

"Tschüß!"

"Gute Nacht."

"Danke für das Essen."

Und alle gehen sie. Ich habe ganze drei Mal mit meiner Familie heute geredet! Drei mal! Was soll das? Wut steigt in mir auf und möchte in mein Bett flüchten zu meinen Kuscheltieren, die mir aufmerksam zu hören und immer für mich da sind.
Bevor wir nach Hause fahren, bringen wir noch einen Freund nach Hause.

Ich mag ihn, eigentlich sogar sehr und er mich auch. Trotzdem sind wir nicht wirklich ein Paar. Oder doch? Wir sitzen hinten im Auto und plötzlich nimmt er meine Hand. Sie ist warm und weich. Meine Augen schließen sich und ich versuche zu genießen. Meine Seele spürt, dass er mich anblickt. Ich atme ein und langsam wieder aus. Seine Hand streichelt meine. Dieser Moment ist wunderschön, genau das Richtige nach dem Essen, doch er ist viel zu schnell vorbei.
Er steigt aus, geht zu seiner Haustür und blickt nicht zurück.

Im Auto bricht meine Mutter das schweigen. Sie regt sich auf, mehr als sonst. Der Geburtstag war eine Katastrophe.

"Die können uns gestohlen bleiben! Ohne die sind wir besser dran!"

Sie redet ganz klar von unserer Familie und wendet sich nun an Papa:

"Das deine Schwester auch immer so ein Theater machen muss. Redet kein Wort mit deiner Tochter und ignoriert mich!"

"Was soll das denn jetzt heißen deine Schwester?"

"Du hälst doch zu ihr. Anscheinend hattest du einen schönen Abend!"

"Da stimmt doch gar..."

"...Leugne es ja nicht!"

Ich höre auf ihnen beim Streiten zu zuhören. Meine Hände falten sich und ich hoffe einfach nur noch heil zu Hause anzukommen.
Meine Eltern streiten und streiten und streiten. Von Woche zu Woche wird es schlimmer und das schon seit Jahren.
Meine Mutter ist der Boss der Familie. Was sie sagt ist Gesetzt und Widerstand ist zwecklos.
Ich schlucke alles einfach hinunter und versuche zu vergessen und zu ignorieren. Ganz einfach. Gefühle sind mir in diesem Bezug fremd.
Zu Hause geh ich schnell duschen, sage meinen Eltern gute Nacht und bedanke mich für den tollen Tag.

Im Bett kann ich nicht einschlafen. Ich muss die ganze Zeit an den Abend denken. Meine Familie mag mich nicht. Ich bin schlecht. Eine Versagerin. Ein Nichts. Nur weil ich nicht deren Fleisch und Blut bin wegen meiner Adoption. Deshalb gehöre ich nicht zu ihnen. Ich bin eine Fremde, jemand, der es nicht wert ist zu Leben.
Mir rollen Tränen ins Gesicht. Kein Grund zu weinen Moni! Du brauchst sie alle nicht. Aber ich kann nichts machen und schon bald glitzert mein Gesicht und funkelt im Schein des Lichts.

Leere. Völlige leere. Hass. Trauer. Wut.
Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich existiere schon fast nicht mehr. Ich fühle nichts, aber ich muss mich spüren, muss sehen das ich noch da bin.

Rot... Blut... Es läuft mir meinen Arm hinunter. Ich werde erfüllt von Wärme und Schmerz. Schöner Schmerz.

Und schon bin ich eingeschlafen.

HungerliebeWhere stories live. Discover now