Kapitel 40

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Wir konnten endlich wieder ausschlafen. Lotti turnte zwar schon früh aus ihrer Kiste und verschwand durchs Fenster, Amelie und ich dagegen schliefen bis acht Uhr. Für uns war das schon ziemlich lang. Der Raum beim Frühstück war nur spärlich besucht. Buchensturm kniete auf dem Boden und las sich immer abwechselnd mit Benny Textstücke aus einem Leselöwenbuch vor. Keiner von beiden war sonderlich sicher darin. Meines Wissens nach hatte Benny Khyona nie fertiggelesen.

Am anderen Ende vom Raum mampfte Mr. Brighteye mehr Speck als Amelie und ich zusammen. Es kam mir ziemlich entgegen, dass er da war und ich ihn nicht noch suchen musste. Als ich sah, dass er so gut wie fertig war, stellte ich meinen Teller auf den Boden und stand auf. Amelies Augen folgten mir.

„Ähm. Mr. Brighteye." Er war gerade ebenfalls aufgestanden und sah jetzt zu mir nach unten.

„Ja?"

„Sie haben doch mal gesagt, dass wir mit Fragen auch über andere Fächer zu ihnen kommen können. Könnten sie mir..." ich stockte kurz „mit Gedankensprache und so helfen? Jetzt wo mehr Zeit ist?"

Er nickte. „Sicher. Wenn du willst treffen wir uns um drei unten an der Leiter. Lieber alleine oder mit anderen zusammen?"

„Lieber nicht alleine."

„Dann frag am besten mal rum, wer noch alles will." Nach diesen Worten drehte er sich um und brachte seinen Teller zurück. Ich setzte mich grinsend wieder zu Amelie.

„Ich sag doch. Der kann dir keinen Wunsch abschlagen. Ich bin dabei."

Um fünf nach drei standen also Amelie, Lotti, Buchensturm, Johanna, Benny, Nina, Mr. Brighteye und ich in einem kleinen Kreis auf dem Weg zwischen Waschhaus und Leiter. Die beiden Jungs waren wahrscheinlich nur moralische Unterstützung. Keiner von beiden hatte Probleme mit Gedankensprache.

„Okay" Mr. Brighteye zog ein Bufftuch aus seiner Jackentasche und wickelte es um seine Hand. „Mich nervt das, dass ihr solchen basic Stuff nicht im Unterricht lernt. Gedankensprache könnt ihr, oder?"

Wir nickten alle einstimmig. Gedankensprache war inzwischen ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags geworden.

„Und bei den meisten ist das Spüren das Problem?" Wieder nickte ein Teil von uns.

„Also. Wenn ihr spüren wollt, ob ein Wandler in eurer Nähe ist, ist das fast wie Gedankensprache. Ihr fühlt mehr oder weniger das Echo eurer Gedanken. Oder die leisen, murmelnden Gedanken des anderen. Zumindest ist das bei mir so."

„Bei mir nicht.", meinte Benny „Bei mir fühlt sich das an wie Lichtflecken, aber in meinen Gefühlen."

„Das kann auch sein, aber das ist bei jedem anders. Was wichtig ist, ist, dass ihr euren Instinkten vertraut. Es geht nicht darum, euer Hirn möglichst anzustrengen, sondern mit dem was euer Körper weiß, zu Arbeiten. Wenn ihr versucht, mit aller Macht jemanden zu spüren, unterdrückt ihr euren Instinkt. Vielen fällt das in Tiergestalt leichter, aber wir machen es jetzt erst mal so. Ich möchte, dass ihr eure Augen schließt und versucht ohne viel nachzudenken nur die Leute neben euch zu spüren."

Ich machte die Augen zu. Es fühlte sich wieder so an wie gestern. Als wäre ich alleine. Ich versuchte, meine Gedanken in eine Schublade zu stopfen und meinen Kopf frei zu bekommen. Und dann spürte ich, wie sich die Härchen auf meinem rechten Arm aufstellten. Rechts neben mir stand Johanna, das wusste ich. In meinem dunklen Raum aus Gedanken tauchte von rechts etwas, wie eine warme, unsichtbare Wolke auf.

Im Versuch, ein deutlicheres Bild von der Wolke zu bekommen, fokussierte ich meine Gedanken voll und ganz auf meine rechte Seite, aber sobald ich das tat, verschwand das Kribbeln und die Wärme sofort. Enttäuscht öffnete ich die Augen. Nach und nach öffneten auch die anderen ihre wieder.

Mr. Brighteye lief außen um unseren Kreis. „Wer hat was gespürt? Egal was?"

Bennys und Buchensturms Hände hoben sich sofort. Auch Amelies ging nach oben. Johanna und Lotti hoben ihre Arme zögerlicher. Ich hob meinen Arm auf halbe Höhe. Ninas blieb unten.

„Okay. Nina, das mit dir bekommen wir auch noch hin. Ich brauch mal einen Freiwilligen."

Nach einer kurzen Stille kam von Benny: „Ja, dann mach ich."

„Super" Mr. Brighteye reichte ihm das Tuch. „Einmal über die Augen. Alle anderen drei bis vier Schritte zurück. Benjamin in die Mitte. Ihr versucht jetzt, an ihn ranzukommen. Und du versuchst zu spüren ob jemand kommt und deutest auf denjenigen, bevor er dich berührt."

Wir nickten wieder. Allmählich kam ich mir ein bisschen vor wie ein Wackeldackel. Benny zog das Tuch über seine Augen und es ging los. Wir hatten es nicht leicht mit ihm. Sobald jemand näher als zwei Schritte bei ihm war, schickte Benny ihn auch schon wieder zurück. Erst Lotti schaffte es schließlich, in an der Schulter abzuklatschen.

Und so ging es reihum. Wir wechselten die Position in der Mitte durch. Ich schaffte es tatsächlich, fünf Mal, jemanden wieder weckzuschicken, aber schließlich überlistete mich Johanna, indem sie einmal um mich herumlief und ich nach vorne deutete, während sie mir von hinten auf die Schulter tippte. Ich schaffte es jetzt sogar, das Wolkengefühl stärker zu fokussieren, aber leider nur für sehr kurze Zeit und auch nur wenn ich die Augen schloss und mir die Ohren zuhielt.

„Nächste Stufe. Einer von euch steht wieder in der Mitte. An dessen Rücken stellt sich jemand anderes. Der mit den Verbundenen Augen muss rausfinden wer da steht. Das muss kein Name sein. Es reicht schon, ob derjenige klein, groß, Raubtier, Beutetier oder eure Oma Helga ist. Buchensturm, möchtest du?"

Buchensturm nahm wortlos das Tuch von Nina entgegen, die es vorhin auch geschafft hatte, Amelie wenigstens einmal wegzuschicken. Er zog es sich über die Augen und stellte sich in die Mitte. Mr. Brighteye gab Lotti mit Gesten zu verstehen, dass sie hinter ihn sollte. Sie nickte und trat vor. Buchensturm überlegte sichtlich.

„Klein." Er machte eine Pause. „Fluchttier. Nagetier. Lotti, oder?"

Lotti grinste und klopfte ihm auf die Schulter. „Brav!"

„Charlotte, du bleibst gleich stehen. Buchensturm, such dir jemanden aus."

Ich kam immer noch nicht damit klar, dass Mr. Brighteye immer die richtigen Namen benutzte. Lotti zog sich das Tuch über die Augen. Buchensturm winkte mich nach vorne.

Meine Freundin brauchte deutlich länger als Buchensturm. „Ähm. Ja. Raubtier würde ich sagen." Sie verstummte für eine ganze Weile. „Benny oder Tilda. Aber ich glaube es ist ne Katze. Tilda?"

Ich nickte und klopfte ihr ebenfalls auf die Schulter. Sie drehte sich um und reichte mir das Tuch. „Viel Spaß."

Etwas nervös zog ich es mir über die Augen. Ich wollte mich nicht blamieren. Nicht vor allen anderen und vor allem nicht vor Mr. Brighteye. Leise Schritte erreichten meine Ohren. In meinem Hinterkopf spürte ich wieder eine Art warme Wolke. Aber diesmal verdichtete sie sich. Sie war wie eine Wolke am Himmel, die eine Form hat, nur hatte diese Wolke andere Eigenschaften.

„Es ist nicht Lotti. Nina auch nicht." Die Wolke war kräftig. Sie verströmte eine gewisse Stärke. „Buchensturm ist es auch nicht. Amelie. Amelie oder Benny." Ich streckte meine Gedanken weiter, aber ließ weiter meinen Instinkt arbeiten. „Amelie!"

Eine Hand legte sich auf meine Schulter und drehte mich um. Ich zog die Augenbinde nach oben und sah in zwei bernsteinfarbene Augen. Benny.

„Aaach Mist."

„War nah dran."

Ich lief zurück an meinen Platz im Kreis und gab Nina mit einem Nicken zu verstehen, dass sie als Nächstes sollte. Sie stellte sich hinter Benny. Dieser überlegte. Man konnte die Zahnräder in seinem Kopf förmlich rattern hören.

„Kein Raubtier." Er stockte. „Wassertier. Was ist denn das für'n dummer Witz? Halt." Er murmelte leise vor sich hin. Ich tauschte einen verwirrten Blick mit Amelie. „Wassertier. Säugetier. Meer. Robbe. Nein. Seehund. Nina." Er zog sich die Augenbinde ab und drehte sich um.

Nina drehte sich langsam zu Mr. Brighteye, der hinterJohanna stand. In ihren Augen lag nur eins. Absolute Verwirrung.

Black Forest Academy || Woodwalkers FanfictionWhere stories live. Discover now