Lektion #33

5.5K 410 46
                                    

Viel zu schnell ist Montag. Laut jammernd macht Andy seinen Wecker aus und flucht: „Ich will Ferien! Wann sind endlich wieder Ferien?"
Ich werfe ein Kissen nach ihm und lache dabei. Er ist manchmal sowas von absurd.

Gestern habe ich den ganzen Tag nichts von Marshall gehört. Ich schätze, er muss noch einiges für die Vorlesungen vorbereiten. Ich muss zugeben, dass ich ein bisschen nervös bin, wenn ich ihn heute in meiner Vorlesung sehe. Ich schalte unsere Kaffeemaschine ein und gehe zum Duschen ins Gemeinschaftsbad, während Andy weiterhin im Bett herumnörgelt.

Den halben Vormittag habe ich erst einmal Informatikvorlesungen und bin vollkommen vertieft in die neuen Programmiertechniken, die wir heute begonnen haben. Ich tippe wie wild bis in die Pause hinein, während meine Mitstudenten schon lange den Raum verlassen haben.
„Mr. Patterson?", spricht mich Mr. Davids, mein Informatikprofessor, an.
„Ja", sage ich geistesabwesend. „Ich bin gleich soweit. Ich muss nur noch diese eine Prozedur–"
„Haben Sie gleich noch Vorlesungen?"
„Hmm", murmle ich und tippe weiter.
„Dann sollten Sie vielleicht jetzt zusammenpacken."
Verwirrt schaue ich zu ihm auf. Ich habe doch ohnehin noch eine Stunde Mittagspause. „Was?"

Professor Davids schaut auf seine Armbanduhr. „Meine Studenten kommen in zwei Minuten, ich muss Sie jetzt leider rausschicken, Mr. Patterson", erklärt er entschuldigend.
Ich habe vollkommen die Zeit vergessen, damit auch meine Mittagspause und beginne nun, hektisch meinen Laptop und meine Unterlagen in meinen Rucksack zu stopfen.
Fuck, fuck, fuck!
Meine Literaturvorlesung ist in einem anderen Gebäude und in aller Regel brauche ich locker zwanzig Minuten bis dorthin. Wenn ich normal gehe.

Also renne ich kurze Zeit später über den gefrorenen, braunen Matsch, der den gesamten Campus bedeckt, zu dem Gebäude, in dem meine Vorlesung bereits seit zehn Minuten stattfindet.
Kurz vor der Treppe meint das Schicksal es heute auch richtig gut mit mir und lässt mich würdelos und vollkommen unerwartet ausrutschen. Nun bin ich also nicht nur komplett unter meiner Winterjacke durchgeschwitzt, mein rechtes Hosenbein wird nun auch noch von oben bis unten von einem feuchten, braun-schwarzen Fleck geziert.

Abgehetzt und mit vermutlich hochrotem Kopf stürme ich in den Vorlesungssaal. Alle Augen, inklusive der meines hübschen Literaturprofessorfreunds, sind sofort auf mich gerichtet.
„Mr. Patterson", sagt Professor Holt herablassend. „Wie überaus großzügig von Ihnen, uns mit Ihrer Anwesenheit zu beehren."
Einige Studenten lachen und ich merke, wie mein Gesicht noch heißer wird.
„Entschuldigung", murmle ich. „Ich habe leider die Zeit vergessen."
„Nun", sagt Marshall und wendet sich wieder dem
Saal zu. „Vielleicht erinnern Sie sich morgen wieder an die Zeit. Schließen Sie bitte die Tür."

Ich nicke beschämt und ziehe die Tür hinter mir zu.
„Von außen, Mr. Patterson", sagt der Professor ohne mich anzusehen.
„Was?", frage ich leise.
Marshall atmet laut aus und an der Anspannung seines Kiefers erkenne ich, dass er genervt ist. „Sie schließen die Tür von außen, Mr. Patterson. Sie gehen. Jetzt. Und wenn Sie sich morgen vielleicht an die Zeit erinnern, dürfen Sie morgen vielleicht auch am Unterricht teilnehmen. Guten Tag."

An den Gesichtern der Studenten sehe ich unterschiedlichste Emotionen. Mitgefühl, Schadenfreude, Angst. Der Einzige, der mich nicht ansieht, ist Marshall Holt.
Ich straffe meine Schultern und verlasse ohne ein Wort den Raum. Natürlich trage ich Sorge dafür, die Tür besonders laut zufallen zu lassen. Den Schrei, der in meiner Kehle brodelt, halte ich gerade so lange zurück, dass er erst draußen aus mir herausbricht.

Vor Wut trete ich gegen eine der überfrorenen Bänke, die auf dem Campus stehen und diese fällt langsam in den Schneematsch.
„Hey!", mahnt mich ein Mann an, der gerade vorbeigeht und mich beobachtet. „Heb das gefälligst wieder auf!"
Ich rolle mit den Augen und widerstehe dem Drang, ihm meinen Mittelfinger zu präsentieren. Stattdessen hebe ich die Bank wieder auf und ignoriere dabei den empörten Blick des Mannes.

Schnaubend stapfe ich ins Wohnheim, denn meine Vorlesungen haben für heute ja überraschend ein
jähes Ende gefunden. Im Zimmer setze ich mich wieder an meinen Laptop und versuche weiterzuprogrammieren. Natürlich will mir rein gar nichts gelingen, da meine Gedanken unentwegt zu Marshall wandern.
Was sollte das? Es kann doch jedem mal passieren, dass man zu spät kommt. Aber mich dann so vor dem gesamten Saal bloßzustellen..

Zwei Stunden später liege ich auf meinem Bett und spiele ein hirnloses Spiel auf meinem Handy, als es mit einer E-Mail vibriert.

Von: m.holt@nyuprofessors.com
An: l.patterson@nyustudents.com
Betreff: Nachsitzen

Sehr geehrter Mr. Patterson,

da Sie an der heutigen Vorlesung nicht teilgenommen haben, muss ich Sie bitten, den versäumten Stoff umgehend nachzuholen.

Bitte kommen Sie um 17:30 Uhr in mein Büro, um sich die nötigen Unterlagen abzuholen.

Mit freundlichen Grüßen,

Ihr Marshall Holt

Ich schnaube vor mich hin und lösche die E-Mail. Er kann mich mal. Nachsitzen. Ich glaube, er hat sie wohl nicht mehr alle. Ich wende mich wieder meinem Spiel zu und zwanzig Minuten später vibriert mein Handy erneut.

Von: m.holt@nyuprofessors.com
An: l.patterson@nyustudents.com
Betreff: Nachsitzen II

Sehr geehrter Mr. Patterson,

offenbar ist es Ihnen als Informatikstudent nicht geläufig, dass man als Absender einer E-Mail eine Benachrichtigung erhalten kann, wenn der Empfänger die E-Mail gelöscht hat.

Dass ich hierzu eine persönliche Erklärung verlange, versteht sich von selbst. Der Termin um 17:30 Uhr versteht sich als Pflicht für Sie.

Herzlichst,

Ihr Marshall Holt

Ich muss aufpassen, dass ich mein Handy nicht in meiner Hand zerbreche. Dieser Mann macht mich wahnsinnig. Ich befürchte nur, dass meine Wut, sobald ich mit ihm allein in seinem Büro bin, wieder verfliegen wird. Und eigentlich habe ich auch ziemlich übertrieben. Mir ist klar, dass ich mich wieder einmal vollkommen irrational verhalten habe.

Seufzend sehe ich auf die Uhr. Es ist schon kurz nach fünf. Also stehe ich auf, ziehe meine Jacke an und mache mich – wieder einmal – wie ein geprügelter Hund auf den Weg zum Büro meines Professors.

Pünktlich um 17:30 Uhr klopfe ich an die Tür und als sie sich öffnet, kommt mir Melanie Collins entgegen.
„Vielen Dank, Professor Holt", säuselt sie und streicht mit ihrer Hand über Marshalls Oberarm.
„Gern, Miss Collins", erwidert Marshall und sieht mich nicht mal an. „Bis morgen."
„Adieu", flötet sie, betrachtet mich kurz abschätzig von oben bis unten und stolziert dann den Gang entlang. Ich blicke ihr mit finsterem Blick nach.

„Mr. Patterson", reißt Marshall meine Aufmerksamkeit an sich. Ich schrecke zusammen und sehe, dass er mir die Tür aufhält. Schnell trete ich ein und schnuppere. Das ganze Büro ist erfüllt von dem süßlichen Parfüm, das diese Schlampe immer trägt. Marshall schließt die Tür hinter mir und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass seine Arme vor seiner Brust verschränkt sind und seine Augenbraue gehoben. Er ist wohl sauer.

Notenspiegel | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt